Die Widersacher

 

Widersacher der Inklusion

 

Der erste Eindruck einer allgemeinen Zustimmung ist indes oberflächlich. Aus den einstigen „Gegnern“ der Integration sind keineswegs von heute auf morgen Anhänger und Freunde der Inklusion geworden. Wo gesellschaftliche Gruppierungen sich in Wahrheit positionieren, kann verlässlich erst mit der bohrenden Nachfrage: „Wie hältst Du’s mit der Sonderschule?“ erschlossen werden. Mittels dieser Tiefenbohrung wird alsbald deutlich werden, dass das hergebrachte Konzept einer separierten Unterrichtung behinderter Kinder in Sonderschulen sich unverändert einer nennenswerten Zustimmung erfreut. Manch einer fügt dem Bekenntnis zur Inklusion flugs den wichtigen Nachsatz hinzu: Aber die Sonderschulen müssen bestehen bleiben! Gegner der Inklusion gibt es nicht, Widersacher der Inklusion aber schon.

Als Widersacher der Inklusion sind all diejenigen anzusehen, die zwar für Inklusion ein höfliches Lippenbekenntnis erübrigen können, aber an der weiteren Existenz von Sonderschulen unverbrüchlich festhalten.

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien einige Widersacher der Inklusion namentlich angeführt.

Der Philologenverband und der Realschullehrerverband sind die natürlichen Exponenten des gegliederten Schulwesens schlechthin. Sie treten dafür ein, dass ausschließlich „geeignete“ Schülerinnen und Schüler ihre Schulformen besuchen und schließen deshalb all jene mit Leistungsbeeinträchtigungen von vornherein aus.

Viele Förderschulen befinden sich in privater Trägerschaft, entweder der christlichen Kirchen oder von Sozialverbänden und Stiftungen. Alle Privatschulen finanzieren sich auch über Pro-Kopf-Zuweisungen pro Kind. Die Inklusion behinderter Schüler in allgemeine Schulen könnte den Exodus behinderter Kinder zur Folge haben und damit den Privatschulen durch eine Abstimmung mit den Füßen die finanzielle Grundlage entziehen.

Die Interessenlage bei den Betroffenenverbänden ist unübersichtlich; sie variiert von Förderschwerpunkt zu Förderschwerpunkt und von Landesverband zu Landesverband zum Teil erheblich. Während etwa der Bundesverband Lebenshilfe sich deutlich pro Inklusion positioniert hat, halten manche Regionalverbände an der Notwendigkeit von separaten Sonderschulen fest. In den Förderschwerpunkten „Hören“ und „Sehen“ veranlassen positive Erfahrungen mit sonderpädagogischer Frühförderung die Eltern dazu, die separate Unterrichtung auch in der Schule fortzusetzen. In den Förderschwerpunkten „Lernen“ und „emotionale und soziale Entwicklung“ sind die Eltern aufgrund vielfältiger persönlicher Belastungen an Schule überhaupt wenig interessiert. Während die Eltern dieser Förderschwerpunkte sich tendenziell gleichgültig verhalten, treten die entsprechenden Lehrerverbände zum Teil mit Vehemenz für den Erhalt „ihrer“ Sonderschulen ein. Im Förderschwerpunkt „Sprache“ wissen die Eltern den therapeutischen Anspruch der „Durchgangsschule“ und die kleine Lerngruppe durchaus zu schätzen; die wissenschaftliche Sprachheilpädagogik befürwortet aufs Ganze gesehen die Möglichkeiten und Chancen einer inklusiven Förderung. Bei Körperbehinderungen und schweren Mehrfachbehinderungen hat für die Eltern die Möglichkeit einer ganztägigen Betreuung einen entscheidenden Stellenwert.

Unter den sonderpädagogischen Verbänden kommt dem Verband Sonderpädagogik (VDS) eine exponentielle Bedeutung zu. Der VDS, der größte sonderpädagogische Fachverband Europas, agiert weitgehend defensiv und hat sich eindeutig auf ein Sowohl-als-auch festgelegt. Theoretisch wird zwar das Primat der Integration und die subsidiäre Funktion von Sonderpädagogik unterstützt, praktisch aber an separaten, eigenständigen Existenzformen festgehalten: eigene Lehrerausbildung, eigene Schulhäuser, eigene Standesorganisation und eigene Lehrerbesoldung. Inklusion ist über die Sonderpädagogik scheinbar über Nacht hereingebrochen. Sie wurde von der Sonderpädagogik nicht herbeigesehnt, sondern musste und muss ihr abgerungen werden.

Bezüglich der bildungspolitischen Positionen der Parteien spielt die Farbenlehre leider eine einflussreiche Rolle. Im linken Parteienspektrum wird ein inklusives Schulsystem durchgängig befürwortet, Unterschiede zeigen sich hier allenfalls hinsichtlich des Fortbestands eigenständiger Sonderschulen. Das bürgerliche Lager ist für eine inklusive Schulreform – mit erheblicher regionaler Varianz – durchaus aufgeschlossen, verbindet aber die schulpolitische Öffnung hin zur Inklusion zugleich mit einer verbindlichen Bestandsgarantie für Sonderschulen. Sehr pointiert bringt diese Parallelität sonderpädagogischer Förderung behinderter Schüler in allgemeinen und besonderen Schulen die FDP zum Ausdruck – so betonte etwa Ingrid Pieper-von Heiden, FDP-Abgeordnete im Düsseldorfer Landtag, im Dezember 2009: „Für die FDP-Landtagsfraktion gilt: (…) Förderschulen werden auch künftig ein fester Bestandteil des nordrhein-westfälischen Schulsystems sein.“

Der Streifzug durch diverse gesellschaftliche Organisationen und Gruppierungen hat gezeigt, dass die Bundesrepublik Deutschland – anders als die skandinavischen Länder oder Italien – noch recht weit von einem gesamtgesellschaftlichen Konsens entfernt ist. Das allgemein beteuerte Bekenntnis zur UN-Behindertenkonvention ist gewiss erfreulich, aber nicht wirklich tragfähig und belastbar. Wenn es konkret um den Aufbau inklusiver Bildungsangebote geht, klaffen das bekundete Bekenntnis zur Inklusion und die Bereitschaft zu realen schulpraktischen Konsequenzen immer wieder erheblich auseinander. Es gibt sie leider eben doch noch, die Widersacher der Inklusion.

 

Gegenreden gegen inklusive Bildung

 Wie begründen die Widersacher inklusiver Bildung ihre defensive Position? Bei der argumentativen Verteidigung segregierender Bildung kommen – neben einer Reihe von detaillierten Begründungen – immer wieder recht typische Einwände und Vorbehalte zur Sprache. Diese typischen Argumentationsfiguren soll im Folgenden nachgezeichnet werden.