Eine inklusive Schule gelingt nur gemeinsam
27. Januar 2011
von Christian Ebel
WilÂfried SteiÂnert, eheÂmaÂliÂger SchulÂleiÂter der WaldÂhofÂschule TemÂplin, setzt sich seit lanÂgem für gemeinÂsaÂmes LerÂnen ein. Im InterÂview erklärt er, warum.
Was waren die BewegÂgründe, die WaldÂhofÂschule von einer FörÂderÂschule zu einer inkluÂsiÂven GanzÂtagsÂschule umzuÂgeÂstalÂten?
AusÂgangsÂpunkt war das AnlieÂgen der Stephanus-Stiftung, der TräÂgeÂrin der Schule, die SonÂderÂpädÂagoÂgik aus ihrem NischenÂdaÂsein herÂausÂzuÂhoÂlen. Dafür suchte sie 2002 eine neue SchulÂleiÂtung, die mit vieÂlen FreiÂheiÂten ausÂgeÂstatÂtet werÂden und die WaldÂhofÂschule entÂwiÂckeln sollte.
Dass wir auf eine inteÂgraÂtive GrundÂschule hinÂgeÂarÂbeiÂtet haben – den Begriff der InkluÂsion gab es noch nicht, hing auch mit unseÂren eigeÂnen negaÂtiÂven InteÂgraÂtiÂonsÂerÂfahÂrunÂgen zusamÂmen. Vor der Schule für alle gab es die EinÂzelÂinÂteÂgraÂtion. Im RahÂmen dieÂser MaßÂnahme sind einÂzelne geisÂtig behinÂderte KinÂder in RegelÂschulÂklasÂsen geganÂgen. Von denen haben wir aber viele zwiÂschen der dritÂten und fünfÂten Klasse wieÂder zurückÂbeÂkomÂmen, weil die norÂmale GrundÂschule ihnen nicht mehr gerecht werÂden konnte. Es fehlte nicht nur eine ausÂreiÂchende fachÂliÂche BetreuÂung, sonÂdern die KinÂder machÂten auch eher die ErfahÂrung von SegreÂgaÂtion statt InteÂgraÂtion. Das hat dazu geführt, dass sie nach ihrer RückÂkehr an die WaldÂhofÂschule zusätzÂliÂche VerÂhalÂtensÂaufÂfälÂligÂkeiÂten zeigÂten, vor allem aggresÂsiÂves Verhalten.
War es der „besÂsere“ Weg, eine FörÂderÂschule zu einer InteÂgraÂtiÂonsÂschule umzuÂgeÂstalÂten oder hätte es auch genauso mit einer RegelÂschule klapÂpen könÂnen?
Der VorÂteil an der FörÂderÂschule ist natürÂlich der, dass hier schon die pädÂagoÂgiÂsche KomÂpeÂtenz dafür vorÂhanÂden ist, SchüÂler mit ihren BesonÂderÂheiÂten indiÂviÂduÂell zu betrachÂten. Wer sich mit einem geisÂtig oder schwerst mehrÂfach behinÂderÂten Kind ausÂeinÂanÂderÂsetÂzen muss, der hat einen ganz andeÂren Blick auf den EinÂzelÂnen, seine BeeinÂträchÂtiÂgunÂgen, seine AnsprüÂche und seine StärÂken. Das ist der eine VorÂteil. Der andere ist, dass ein FörÂderÂschulÂlehÂrer mit dieÂsem besonÂdeÂren Blick natürÂlich auch die RegelÂschüÂler betrachÂtet. Er erkennt auch hier viel leichÂter und schnelÂler die indiÂviÂduÂelÂlen BesonÂderÂheiÂten des KinÂdes. Also war es für uns naheÂlieÂgend, die RegelÂschulÂkinÂder zu uns an die WaldÂhofÂschule zu holen.
Gab es nicht starke VorÂbeÂhalte vonÂseiÂten der Eltern, ihre „norÂmaÂlen“ KinÂder auf eine InteÂgraÂtiÂonsÂschule zu schiÂcken?
Ja, aber es sind eben auch nur VorÂurÂteile, die da in ersÂter Linie heiÂßen: Die BehinÂderÂten behinÂdern das LerÂnen. Wir waren uns desÂsen natürÂlich bewusst und haben desÂhalb auch erst mal ein Jahr lang intenÂsive ÖffentÂlichÂkeitsÂarÂbeit gemacht. Dazu gehörÂten monatÂliÂche BilÂdungsÂverÂanÂstalÂtunÂgen in der Stadt und dazu gehörte auch das Glück, dass unsere örtÂliÂche Presse mitÂgeÂganÂgen ist und konÂtiÂnuÂierÂlich über die BilÂdungsÂdisÂkusÂsion berichÂtet hat.
Das BesonÂdere war aber, dass wir unsere einÂzelÂnen BilÂdungsÂverÂanÂstalÂtunÂgen gar nicht zum Thema inteÂgraÂtive GrundÂschule oder gemeinÂsaÂmes LerÂnen gemacht haben. StattÂdesÂsen haben wir darÂüber disÂkuÂtiert, ob HausÂaufÂgaÂben notÂwenÂdig sind, wie eine sinnÂvolle LeisÂtungsÂbeÂwerÂtung in der Schule ausÂseÂhen kann oder wie eine gute GanzÂtagsÂschule aufÂgeÂbaut sein muss. Als wir nach einem Jahr der intenÂsiÂven BilÂdungsÂdisÂkusÂsion das inteÂgraÂtive SchulÂkonÂzept der WaldÂhofÂschule vorÂgeÂstellt haben, da haben Eltern ihre KinÂder gar nicht so sehr wegen der BehinÂderÂten bei uns angeÂmelÂdet, sonÂdern wegen des überÂzeuÂgenÂden und zukunftsÂweiÂsenÂden GesamtÂkonÂzepÂtes. Dazu gehörÂten neben dem gemeinÂsaÂmen, handÂlungsÂoriÂenÂtierÂten LerÂnen die rhythÂmiÂsierte GanzÂtagsÂschule, relaÂtiv kleine KlasÂsen mit maxiÂmal 18 SchüÂlern, TeamÂteaching mit immer zwei LehÂrern in einer Klasse, keine HausÂaufÂgaÂben usw.
Wie ist die WaldÂhofÂschule mit Blick auf SchüÂler und PerÂsoÂnal aufÂgeÂbaut?
ZurÂzeit lerÂnen bei uns etwa 130 SchüÂleÂrinÂnen und SchüÂler in sechs JahrÂgänÂgen und etwa zwei KlasÂsen pro JahrÂgang. Für jede Klasse ist ein PädÂagoÂgenÂteam zustänÂdig, das aus einer sonÂderÂpädÂagoÂgiÂschen LehrÂkraft, einer GrundÂschulÂlehÂreÂrin und einer pädÂagoÂgiÂschen FachÂkraft besteht. Etwa die Hälfte der KinÂder einer Klasse hat einen diaÂgnosÂtiÂzierÂten FörÂderÂbeÂdarf. Das SchüÂlerÂspekÂtrum reicht dabei von schwerst mehrÂfach BehinÂderÂten bis hin zum hochÂbeÂgabÂten Kind.
Wie gehen Sie mit dieÂser VielÂfalt im UnterÂricht konÂkret um?
Zunächst mal besteht eine wesentÂliÂche GrundÂlage des UnterÂrichÂtes darin, vonÂeinÂanÂder zu lerÂnen. In den ersÂten zwei SchulÂjahÂren legen wir bei den SchüÂlern die Basis dafür. In Klasse eins und zwei lerÂnen sie, wie man gemeinÂsam lernt. Diese FähigÂkeit könÂnen die LehÂrer dann unmitÂtelÂbar im UnterÂricht aufÂnehÂmen und schauen, wer sich für welÂches Thema als Tutor eigÂnet. Dafür müsÂsen sie aber zunächst die StärÂken und SchwäÂchen der EinÂzelÂnen erkennen.
Es ist dabei übriÂgens nicht so, dass KinÂder mit indiÂviÂduÂelÂlem FörÂderÂbeÂdarf stänÂdig von KinÂdern ohne BeeinÂträchÂtiÂgung angeÂleiÂtet werÂden. Das ist auch so ein Mythos. Gerade bei prakÂtiÂschen AufÂgaÂben zeiÂgen sich KinÂder mit BehinÂdeÂrunÂgen zum Teil viel pfifÂfiÂger und einÂfallsÂreiÂcher als RegelÂschüÂler, die vielÂleicht schon lesen können.
Wir haben eine wisÂsenÂschaftÂliÂche BegleitÂstuÂdie lauÂfen, die uns seit unseÂren AnfänÂgen begleiÂtet. Die hat unter andeÂrem festÂgeÂstellt, dass an der WaldÂhofÂschule kein Kind glaubt, dass es grundÂsätzÂlich für Schule oder das ErlerÂnen bestimmÂter Dinge zu doof sei. Das ist ein scheinÂbar banaÂler Aspekt, der aber in einer LernÂumÂgeÂbung mit 50 ProÂzent beeinÂträchÂtigÂten KinÂdern ungeÂheuer wichÂtig ist. Die KinÂder aus der EinÂzelÂinÂteÂgraÂtion zu ZeiÂten der reiÂnen FörÂderÂschule waren teilÂweise hoch frusÂtriert und demoÂtiÂviert. Das gibt es bei uns nicht.
Wie haben die RegelÂschulÂlehÂrer an Ihrer Schule gelernt, mit der UnterÂschiedÂlichÂkeit der KinÂder umzuÂgeÂhen?
Die FachÂlehÂrer von der GrundÂschule hatÂten natürÂlich zunächst einen schwieÂriÂgeÂren Weg zu beschreiÂten als die SonÂderÂpädÂagoÂgen. Als ErsÂtes muss ein grundÂleÂgenÂdes VerÂständÂnis dahinÂgeÂhend herÂgeÂstellt werÂden, dass in jeder HinÂsicht koopeÂraÂtiv gearÂbeiÂtet wird. InkluÂsive Schule heißt nicht, dass die RegelÂschulÂlehÂrer sich um die KinÂder ohne FörÂderÂbeÂdarf kümÂmern und die SonÂderÂpädÂagoÂgen um die BehinÂderÂten. InkluÂsive Schule gelingt nur gemeinÂsam. Dafür haben wir uns dann auch am Anfang zusamÂmen hinÂgeÂsetzt und daran gearÂbeiÂtet, wie ein gemeinÂsaÂmer UnterÂricht ausÂseÂhen muss. Das war ein durchÂaus schweÂres Stück Arbeit. Aber darÂaus hat sich unter andeÂrem entÂwiÂckelt, dass es an der WaldÂhofÂschule nur noch 20 bis 30 ProÂzent FronÂtalÂunÂterÂricht gibt. Die übrige Zeit wird als LernÂlandÂschaft gestalÂtet, die gemeinÂsam vom PädÂagoÂgenÂteam entÂwiÂckelt und umgeÂsetzt wird.
SchließÂlich muss auch klar sein, dass die entÂscheiÂdenÂden ResÂsourÂcen einer inkluÂsiÂven Schule nicht genutzt werÂden, wenn man die SonÂderÂpädÂagoÂgen mit den förÂderÂbeÂdürfÂtiÂgen KinÂdern in den NebenÂraum schickt. Dann geschieht kein gemeinÂsaÂmes LerÂnen und dann proÂfiÂtiert weder die Klasse noch der RegelÂschulÂlehÂrer von der fachÂliÂchen KomÂpeÂtenz der SonÂderÂpädÂagoÂgen. Alle LehÂrer sind für alle SchüÂler gemeinÂsam zuständig.
Wie wichÂtig ist die HalÂtung eines LehÂrers in Bezug auf InkluÂsion?
Das Schlimmste, was einem förÂderÂbeÂdürfÂtiÂgen Kind im inkluÂdierÂten UnterÂricht pasÂsieÂren kann, ist, dass es zwar gemeinÂsam mit den andeÂren SchüÂlern lernt, es von dieÂsen aber als dumÂmes oder unfäÂhiÂges Kind angeÂseÂhen und ausÂgeÂgrenzt wird. Ob so etwas geschieht oder nicht, hat ursächÂlich mit der HalÂtung zu tun, die der jeweiÂlige KlasÂsenÂlehÂrer an den Tag legt. Wenn ein behinÂderÂtes Kind von einem FachÂlehÂrer als BelasÂtung empÂfunÂden wird, dann überÂträgt sich diese EinÂstelÂlung – ob er will oder nicht – auch auf die SchüÂler. Auf diese Weise entÂsteht Separation.
WelÂche Schritte sind entÂscheiÂdend, wenn eine Schule sich nun zu einer inkluÂsiÂven Schule entÂwiÂckeln will? Womit fängt man an?
Der erste Schritt auf dem Weg zur inkluÂsiÂven Schule heißt InforÂmaÂtion. Sie müsÂsen wisÂsen, was inkluÂsive Schule wirkÂlich bedeuÂtet und wie inkluÂsive Schule in der PraÂxis ausÂsieht. DesÂhalb steÂhen am Anfang im besÂten Fall HosÂpiÂtaÂtioÂnen: allen voran durch die SchulÂleiÂtung, die dieÂses Thema schließÂlich für die eigene Schule umsetÂzen will, und dann natürÂlich durch die andeÂren LehÂrer. HosÂpiÂtaÂtioÂnen geben nicht nur eine VorÂstelÂlung vom inkluÂsiÂven SchulÂallÂtag, sie ermögÂliÂchen auch den direkÂten KonÂtakt und AusÂtausch zu KolÂleÂgen mit InkluÂsiÂonsÂerÂfahÂrung. Im zweiÂten Schritt muss schulÂinÂtern disÂkuÂtiert werÂden, welÂche VorÂausÂsetÂzunÂgen für InkluÂsion es bereits an der eigeÂnen Schule gibt. Was bedeuÂtet InkluÂsion für die eigene Schule? WelÂche HalÂtung braucht InkluÂsion? In welÂcher Form und mit welÂchen SchritÂten kann InkluÂsion an der eigeÂnen Schule umgeÂsetzt und entÂwiÂckelt werden?
Die WaldÂhofÂschule hatte ihre ExperÂten mit InkluÂsiÂonsÂblick ja von Anfang an schon an Bord. Wer aber begleiÂtet eine RegelÂschule auf dem Weg zur inkluÂsiÂven Schule? Wer schaut im SchulÂallÂtag auf die UmsetÂzung und erkennt, wenn es irgendwo hakt?
Im Moment eigentÂlich keiÂner. Für die Zukunft brauÂchen wir im PrinÂzip Inklusions-Coaches, die von speÂziÂelÂlen SchulÂentÂwickÂlungsÂagenÂtuÂren komÂmen und die die SchuÂlen auf ihrem Weg zur „Schule für alle“ begleiÂten. Es ist eh noch ein weiÂter Weg, unsere SchuÂlen so zu entÂwiÂckeln, dass sie gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention allen KinÂdern offenÂsteÂhen. Da könÂnen wir es uns nicht leisÂten, dass jede Schule auch die FehÂler der andeÂren macht und in die gleiÂchen SackÂgasÂsen läuft. Wir brauÂchen also quaÂliÂfiÂzierÂtes PerÂsoÂnal, das hier relaÂtiv zeitÂnah beraÂtend und begleiÂtend zum EinÂsatz kommt.
WelÂchen besonÂdeÂren HerÂausÂforÂdeÂrunÂgen sind Sie auf dem Weg zur inkluÂsiÂven Schule begegÂnet?
Es gab manchÂmal sehr unerÂwarÂtete, aus der PraÂxis entÂsprinÂgende HürÂden, die wir zu bewälÂtiÂgen hatÂten. So wollÂten am Anfang die FachÂkolÂleÂgen in den BereiÂchen MatheÂmaÂtik und Deutsch plötzÂlich, dass wir in der dritÂten Klasse doch wieÂder zum difÂfeÂrenÂzierÂten UnterÂricht zurückÂkehÂren. Es wurde disÂkuÂtiert, ob man die beiÂden ParÂalÂlelÂklasÂsen des JahrÂgangs nicht in drei NiveauÂstuÂfen unterÂteiÂlen könne: stark, mitÂtel und schwach.
Wir haben dieÂses Modell dann auch verÂsucht, aber nach einem halÂben Jahr schnell wieÂder abgeÂbroÂchen. Es hatte sich nämÂlich gezeigt, dass die LeisÂtunÂgen in allen drei GrupÂpen gesunÂken waren. BesonÂders bei den guten SchüÂlern ist die SituaÂtion entÂstanÂden, dass es im direkÂten KonÂkurÂrenzÂkampf nur noch darum ging, wer besÂser war. Den SchwäÂcheÂren fehlÂten mit den leisÂtungsÂstärÂkeÂren SchüÂlern schließÂlich die MotiÂvaÂtoÂren und Tutoren.
Die größte HerÂausÂforÂdeÂrung auf dem Weg zur inkluÂsiÂven Schule besteht meiÂnes ErachÂtens darin, den inkluÂsiÂven Ansatz auch konÂseÂquent umzuÂsetÂzen. Er darf nicht in TeiÂlen zurückÂgeÂnomÂmen und damit im GanÂzen verÂwäsÂsert werÂden. Wer über Jahre oder JahrÂzehnte difÂfeÂrenÂzierÂten UnterÂricht gemacht hat, neigt natürÂlich schnelÂler dazu, ErprobÂtes wieÂder einÂzuÂsetÂzen. Ich erkläre aber im Gespräch mit KolÂleÂgen immer wieÂder, dass ein förÂderÂbeÂdürfÂtiÂges Kind vielÂleicht eine bestimmte MulÂtiÂpliÂkaÂtiÂonsÂaufÂgabe nicht lösen kann. Aber es kann das PrinÂzip der MulÂtiÂpliÂkaÂtion und das PrinÂzip von TeilÂmenÂgen verÂsteÂhen. Ich muss mich als LehÂrer dann halt nur mit dem Kind hinÂsetÂzen und mit ein paar farÂbiÂgen MagneÂten dieÂses PrinÂzip darstellen.
Quelle: http://www.vielfalt-lernen.de/2011/01/27/eine-inklusive-schule-gelingt-nur-gemeinsam/
Waldhofschule Templin: http://www.waldhofschule.de/