Aufbruch
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Prof. Thurn: Schulen auf dem WegIndividualisierung – unerreichbares Ziel am Ende allzu steiniger Wege? Gegen alle Widrigkeiten und Unzulänglichkeiten haben sich dennoch viele Schulen längst auf den Weg gemacht, einem selbst gesetzten Ziel nach mehr Individualisierung näher zu kommen. Sie haben die Hirnforschung ernst genommen, der zu Folge zwischen dem Lern- und dem Entwicklungsalter von Kindern bis zu vier Jahren liegen können, ohne dass schon von Behinderung gesprochen werden muss. Sie haben in ihrer Praxis erkannt, dass binnendifferenzierender Unterricht als Antwort auf die Verschiedenheit von Kindern nicht ausreicht, auch wirklich allen Kindern einer Gruppe gerecht zu werden. Sie haben erfahren, dass Kinder voneinander so viel lernen können wie von ihren Erwachsenen, oft sogar leichter. Konsequent haben einige beispielsweise die immer schon und in allen Schulformen vorhandene Heterogenität der Lerngruppen noch erhöht, statt sie auszugleichen, indem sie Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf nicht mehr ausgrenzten, Differenzierungskurse wieder abschafften, ja auch noch Jahrgänge mischten, womit die Notwendigkeit zur Individualisierung offensichtlich und daher unumgänglich wurde.  Sie haben damit begonnen, ihren Unterricht zu verändern – guten Unterricht zu inszenieren, der nach Hilbert Meyer auf sinnstiftender Kommunikation, auf Sinnkonferenzen, Lerntagebüchern, Reichtum an Inszenierungstechniken, individuellem Fördern, Geduld und Zeit, individuellen Lernstandsanalysen und entsprechenden Förderplänen, passgenauen Übungsaufträgen, gezielten Hilfestellungen und einer vorbereiteten Umgebung für selbst organisiertes Lernen beruht (Meyer 2004) – also auf Individualisierung zielt.  Sie suchen danach, in den Mittelpunkt ihrer unterrichtlichen Arbeit ein wirklich wichtiges Problem, eine herausfordernde Aufgabe zu rücken und dann jedem einzelnen Individuum zu vermitteln, dass er oder sie für die Lösung oder Bewältigung gefragt und wichtig ist.  Sie haben den Mut gefunden, den Lernenden Zeit für die eigenständige Bearbeitung der Aufgaben zu geben und halten aus, dass die Ergebnisse weniger eindrucksvoll sind als die früher von ihnen an der Tafel zusammengefassten und von allen kopierten Kernsätze. Sie haben gelernt, mit den Lücken zu leben, denn das eigenständige Arbeiten dauert so viel länger, als unsere überfrachteten Lehrpläne uns gestatten. Sie organisieren individualisierendes Lernen neben dem klassischen Stundenplan, beispielsweise im Elsa Brandström-Gymnasium, wo im „offenen Unterricht“ Schülerinnen und Schüler dreimal in der Woche 90 Minuten lang ihr Lernen selbst arrangieren, sich in eigene Arbeiten versenken, an unterschiedlichen Orten mit verschiedenen Experten arbeiten: selbst bestimmt an ihren Themen und auf unterschiedlichen Niveaus ihre Lernprozesse in die eigene Hand nehmen. Dafür haben sie zuvor mit den Erwachsenen vertraglich Regeln vereinbart und deren Einhaltung bestätigt. Sie konnten sicher sein, dass ihre individuellen Kompetenzzuwächse und die Qualität ihrer Produkte nach vereinbarten und vorher bekannten Kriterien fachlich/kognitiv, kreativ, methodisch und sozial bewertet werden – individuell! (Erika Risse: Man kann der Verschiedenheit der Köpfe gerecht werden“, In: E&W, 7-8, S. 9-10).  Andere Schulen arbeiten mit individuellen Förder- und Forderplänen, mit Lernvereinbarungen und individuellen Rückmeldungen statt mit Zensuren. Andere erwarten von den Lernenden, dass sie ihren Zuwachs an selbstbestimmtem, selbstorganisiertem und selbstverantwortetem Lernen durch Jahresarbeiten unter Beweis stellen, für die sie sich Betreuer ebenfalls selbständig suchen. Wieder andere setzen ihre Ansprüche an individualisierendes Lernen in integrierenden und jahrgangsübergreifenden Gruppen durch Theaterstücke der gesamten Lerngruppe in Szene, beispielsweise im Fremdsprachenlernen, wobei jedes Individuum eine Rolle erhält, die zunächst über seinem Können liegt und eine wirkliche Herausforderung beinhaltet, in der Summe später ein Gemeinschaftswerk ergibt, das jeden einzelnen stolz macht: jene mit Hauptrolle wie auch jene mit Nebenrollen, die andere Zuständigkeiten mit übernommen haben. Noch andere Schulen beginnen mit der Umgestaltung von Klassenräumen und Fluren zu Lernzentren, in denen anregende Lernmaterialen frei zugänglich sind, Ausstellungsflächen geschaffen werden, Einzel- und Gruppenarbeitsplätze ihren Ort haben, individuelles Arbeiten möglich wird. Viele Schulen haben sich auf den Weg gemacht, von diesen können wir lernen. Lernen können wir auch von den Beiträgen in diesem Heft. Andere Schulen machen sich mit großem Mut und gegen althergebrachte Widerstände auf den Weg, wie die Bugenhagen-Schulen in Hamburg, die längst schon auf Inklusion setzen und Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in ihrer Mitte haben. Ab dem kommenden Schuljahr setzen sie auf Jahrgangsmischung der gesamten Primarstufe (1 bis 4) und in ihrer Gesamtschule die Jahrgänge 5 bis 7 und 8 bis 10. Alle diese Schulen haben sich mit dem Anspruch an Individualisierung ein beinahe unerreichbar hohes Zielgesetzt und suchen nun nach Hilfen, nach Vorbildern, nach Unterstützung, hier bei uns, nicht (nur) in Skandinavien. Ohne ihr großes Ziel wären die vielen kleinen und oft äußerst mühseligen kleinen Schritte kaum mehr als entmutigende Sisyphusarbeit. Die kleinen Schritte aber setzen auch die Köpfe in Bewegung, schaffen neue Wirklichkeiten - und mit den wachsenden eigenen Erfahrungen in Richtung Individualisierung werden langsam die Schritte mutiger und zunehmend immer größer.  Helfen können diesen Schulen Standards, die aus der Arbeit „bewegter“ Schulen heraus entwickelt wurden und mit deren Hilfe Schulen im Aufbruch die Qualität ihrer Arbeit messen können. Es sind allerdings Standards, die nicht wieder das Individuum in der Schule auf sich zurückwerfen, es typisieren, Kinder als Gewinner auszeichnen oder als Verlierer zurücklassen! Diese Standards setzen Standards auf mehreren Ebenen: Standards für Individualisierung im täglichen Umgang miteinander – für Individualisierung des Lernens – für Individualisierung des Leistens. Sie sind überprüfbar als Standards für pädagogisches Handeln, als Standards für schulische Rahmenbedingungen und als Standards für systemische Rahmenbedingungen. Sie beziehen sich nicht nur auf Individualisierung an sich, sondern auch auf das dafür notwenige andere Lernen, auf Schule als Gemeinschaft, in der Demokratie gelernt und gelebt wird und auf Schule als lernende Institution (Annemarie von der Groeben,2005). |
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