Aufbruch
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Prof. Singer: Befreiung von AngstKatja: Ihr Lehrer befreit sie von der Angst vor dem Aufgerufen-Werden
Ein Studienrat entdeckte bei sich die heimliche Schulgewalt. Katja ängstigte es, während des Unterrichts plötzlich aufgerufen zu werden; die Angst blockierte ihr Denken. Sie sagt: »Es geht mir wie dem Kaninchen vor der Schlange; ich bin gelähmt. Auch wenn ich gut gelernt habe, scheint das Gelernte wie verflogen. Ich fange an zu stottern und fühle mich hilflos.« Ich frage Katja, ob sie ihre Furcht vor dem Aufgerufen-Werden dem Lehrer nicht mitteilen könne. »Das bringt ja doch nichts«, meint sie, »der Lehrer muss schließlich Noten machen; er kann mich nicht bevorzugen, wenn ich mir wünsche, nicht ungefragt aufgerufen zu werden.« Die Schülerin ist bereits Opfer der Pathologie schulischer Normalität; sie hat sich die heimliche Gewalt einverleibt. Ich sage zu ihr: »Wenn du zum Lehrer hingingst, wüsste der mehr von dir. In meiner Arbeit mit Lehrergruppen erlebe ich, wie ernst Lehrer kritische Anfragen von Jugendlichen nehmen.« Katja sprach mit dem Lehrer; der hörte sich den Kummer an. Es tat ihm leid, die Jugendliche zu ängstigen. In sein Mitleid mischte sich persönliches Erleben aus eigener Schulzeit. Er sah eine Schülerin von nah, die er oft von fern bekämpfte, ohne das zu wollen. Der Studienrat hatte Mitleid. Aber ist Mitleid angebracht, wenn ein Mädchen nur Angst vor dem Ausgefragt-Werden hat? Für Rousseau offenbart sich die allen gemeinsame Menschennatur nicht in der Vernunft, sondern im Mitleid: in einem eingeborenen Widerwillen, einen Mitmenschen leiden zu sehen. Diesen Widerwillen, einen Mitmenschen leiden zu sehen, spürte der Studienrat angesichts Katjas Kummer. »Aber woher die mündlichen Noten nehmen?« Der Lehrer, selbst nie zufrieden mit der bedrängenden Ausfragerei, wollte diese Schülerin nur noch aufrufen, wenn sie sich meldete. Er dachte auch mit der Klasse darüber nach, wie das Problem der mündlichen Note spannungsfreier zu lösen sei. Das Ergebnis: Die Jugendlichen wollten sich künftig auf mündliche Kurzprüfungen vorbereiten und freiwillig melden.
Mit sozialem Mut aus der heimlichen Gewalt des Schulsystems heraus treten
Katja war von ihrer lernstörenden Abfragefurcht befreit. Ihre Energie konnte jetzt für das Lernen fruchtbar werden, und wurde nicht durch Angst aufgezehrt. Auch andere Kinder konnten entspannter am Unterricht teilnehmen. Die Mitarbeit, so berichtete der Gymnasiallehrer, wurde nicht geringer, sondern lebhafter. Er selbst fühlte sich befreit, weil er Unterricht und Prüfung trennte. So konnte er sich auf den Lernvorgang konzentrieren, auf die Sache und die Schüler. Er fungierte nicht als Dauerprüfer, sondern als Lehrer. – Ich selbst habe so lange ich Lehrer war kein Kind aufgerufen, das sich nicht meldete. Oder wie wäre das für Sie, wenn ich Sie während eines Vortrags plötzlich aufrufen würde? Fänden Sie das nicht taktlos? Heimliche Gewalt. Dieser Lehrer tanzte mit sozialem Mut aus der Reihe des Kollegiums – und erntete Vorwürfe: »Wo kämen wir hin, wenn jeder das Abfragen abschaffte?« Aber er fand auch Zustimmung. Da kämen wir hin: zu weniger Gewalt, zu haltgebenden Beziehungen, zu besserem Lernen, achtungsvollem Umgang. Der Studienrat wagte gegenüber den Kollegen »Tapferkeit vor dem Freund«. In der Beziehung zur Schulklasse erlebte er, dass es weniger anstrengend ist, freundlich zu sein. Das beschreibt Bertolt Brecht in seinem Gedicht »Die Maske des Bösen«:
An meiner Wand hängt ein japanisches Holzwerk
Der Lehrer begann, heimliche Gewalt abzubauen an der Stelle, an der er es vermochte. Dadurch brachte er mehr Demokratie in das Unterrichtsgeschehen, und mehr Menschlichkeit. Er ließ sich nicht verbieten, sich seines Verstandes zu bedienen und pädagogisch vernünftig zu handeln. Allerdings – so Bertolt Brecht: „Das Vernünftige bricht sich nicht von selbst Bahn. Es setzt sich nur so viel Vernunft durch, wie die Vernünftigen durchsetzen. Besser als gerührt sein, ist, sich rühren.“ Oder? Erstveröffentlichung in: Erziehungskunst. Zeitschrift zur Pädagogik Rudolf Steiners, Oktober 2002
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