Aufbruch
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Prof. Thurn: Individualisierung kann gelingenDen vollständigen Vortrag von Frau Prof. Thurn können Sie hier anhören:
 Dieser Vortrag ist Teil einer CD-Box mit Vorträgen von Frau Prof. Thurn, die erhältlich ist bei:  http://www.auditorium-netzwerk.de/JOKERS-edition-hoersaal/Alle-Jokers-Artikel-anzeigen/Thurn-Susanne-Eine-andere-Schule-ist-moeglich::2661.html mit freundlicher Genehmigung des Verlages  Die Schulleiterin der Laborschule Bielefeld spricht aus Jahrzehnte langen Erfahrungen mit Individualisierung in ihrer Schule, über die hier mehr zu erfahren ist: bei www.netschool.de im Bereich "Eine neue Schule für alle" finden Sie die Laborschule Bielefeld als gutes Beispiel:    http://www.netschool.de/ens/labor_bi.htm . Es wird Zeit, dass diese guten und wissenschaftlich ausführlich begleiteten, erfolgreichen Erfahrungen endlich bei der Neugestaltung unserer Schulen genutzt werden.  Prof. Susanne Thurn: Individualisierung kann gelingen  Individualisierung? Ja ist denn Individualisierung in enger Verbindung mit Typisierung – dem Fremdwörterlexikon nach zu urteilen ihr Gegensatz – in unseren Schulen nicht durchgängig Prinzip? Im Mittelpunkt der Schule steht der Schüler, steht die Schülerin, wer wollte das bezweifeln? Auf sich allein gestellt ist seine oder ihre Aufgabe, sich zu bewähren, den nächsten Test zu bestehen, das allgemein gesetzte Klassenziel zu erreichen, den Ansprüchen der Eltern gerecht zu werden, den Nachmittag mit Hausaufgaben und teuer bezahlten Nachhilfestunden zu verbringen, mit sieben Jahren bereits zu lernen, „wo man steht“ im Vergleich zu den Gleichaltrigen.  Auf sich allein gestellt ist er, ist sie in der Schule gelangweilt oder überfordert oder auch gerade durchschnittlich passend.  Auf sich gestellt muss er oder sie Anerkennung in der Gruppe suchen, Ausgrenzung aushalten, den Alltag von Konkurrenz und Gegeneinander möglichst unbeschadet bestehen.  Auf sich gestellt muss er oder sie zu häufig nicht-einsichtiges, isoliertes, aus Problemzusammenhängen gelöstes und oft sinnentleertes Wissen für ein Später anhäufen, dazu noch jeden Tag mit unterschiedlichen Erwachsenen und deren höchst unterschiedlichen Erwartungen in rascher Abfolge zurechtkommen.  Auf sich gestellt ist er oder sie ständig vom Abstieg bedroht, den immerhin ein Viertel der Gleichaltrigen mit fünfzehn Jahren dann auch tatsächlich hinter sich haben, was keineswegs zu ihrer Stärkung, zu Mut für Weiterlernen oder gar Lebenslang-gernlernen führt.  Typisiert werden sie alle durch Noten, standardisiertes Lernen und Prüfen, zentrale Testergebnisse und entsprechende Zuweisungen zu unterschiedlichen Schulen, die ihren „eher praktischen“ oder „eher akademischen“ Fähigkeiten gerecht zu werden suchen – Zuweisungen von Lebenschancen im empfindsamen Alter von 10 Jahren.  Und sehen wir uns selbst an: Ist für Lehrerinnen und Lehrer Individualisierung in der Schule nicht gleichbedeutend mit: ich bin alleine mit meinen Aufgaben – für den notwendigen Austausch um Inhalte, fachlich unabgestimmte Problemzusammenhänge, Leistungsfähigkeiten der Schülerinnen und Schüler, Möglichkeiten von Förderung und Herausforderung, Lebensproblemen und Hilfsangeboten gibt es keine Zeit. Erst recht fehlt die Zeit, zunehmend auch die Anerkennung, um neue Wege in der Entwicklung der Schule zu suchen, sich gegenseitig weiter zu bilden, sich Anregungen von außen zu holen. Da es für all das wirklich Wichtige neben dem natürlich wichtigen Unterricht in meinem Arbeitsalltag weder Ort noch Zeit noch Raum gibt, verlasse ich mittags die Schule und eile an meinen individuellen Schreibtisch, um wenigstens mit den Aufgaben wie Korrekturen, fachlichem Standhalten und Vorbereiten kommenden Unterrichts individuell – für mich alleine - fertig zu werden! Typisiert wird meine Tätigkeit allemal: je anspruchsvoller meine pädagogischen Aufgaben in Grund- und Hauptschulen, in Real- und Sonderschulen, um so höher meine Unterrichtsverpflichtung, um so niedriger mein Gehalt, um so aussichtsloser ein Aufstieg.  Individualisierung – das Einzigartige wahrnehmen?  In jenem Fremdwörterlexikon heißt es auch: „das Besondere, Einzelne, Eigentümliche hervorheben, die Individualität … bestimmen“. Bezogen auf Kinder in der Schule wird ein solcher Anspruch zur Zumutung: Wie nur soll und kann ich dem Einzelnen in der Schule gerecht werden? Wie das Besondere sehen und wertschätzen? Wie das Eigentümliche als Chance statt als Störung erkennen? – so die Fragen herausgeforderter Lehrerinnen und Lehrer.  Muss ich nun bei 30 Kindern in meiner Klasse 30 verschiedene Unterrichtsstunden vorbereiten? In 45 Minuten für jeden auch nur anderthalb Minuten bereit stellen? In den nächsten 45 Minuten wieder 30 anderen Kindern 30 mal gerecht werden – und das sechsmal an einem Vormittag? Allein die Namen zu erinnern grenzt an ein Meisterwerk. Was also ist gemeint mit individualisierendem Lernen und wie könnte es gelingen – in meiner Schule, in meinem Unterricht, beginnend morgen? In der Tat: wo beginnen? Prof. Thurn: Wie es nicht gehtSolange Lehrerinnen und Lehrer in 45 Minuten Rhythmen pro Schultag sechs-mal-dreißig verschiedene Kinder unterrichten müssen, stets nur ihrem Fach, nie dem Ganzen oder der Pädagogik verantwortlich, kann sich nichts ändern. Solange Lehrerinnen und Lehrer nur zielgleich zu unterrichten gelernt haben und standardisiert testen und selektieren müssen, kann sich nichts ändern. Solange Lehrerinnen und Lehrer mit nur wenigen diagnostischen Fähigkeiten ausgestattet sind, nicht „passende“ Kinder nach unten abgeben müssen, wenn nicht gar wollen, kann sich nichts ändern.  Solange Schulräume nicht Erfahrungsräume sind, sondern anregungslose nackte Räume mit zur Tafel hin ausgerichteten Tischen und Stühlen, in denen man Kinder oder Jugendliche allenfalls durch verbotene Schmierereien oder vereinzelt ausgestellte Schülerarbeiten entdeckt, kann sich nichts ändern. Solange das Miteinander einer Schulklasse auf eine Klassenlehrerstunde pro Woche beschränkt ist (die in vielen Bundesländern zudem abgeschafft wurde), auf immer seltener werdende Ausflüge oder Klassenfahrten, auf Anerkennungskämpfe im Schulhofgerangel oder Gegeneinander sportlicher Wettkämpfe, kann sich nichts ändern. Prof. Thurn:LernendeKann Individualisierung gelingen? Und wenn, dann wie?  Individualisierendes Lernen gelingt auf der Ebene der Lernenden um so besser,  - je mehr die Sache, die es zu bearbeiten gilt, ihnen als wichtig - aber auch aufregend, weiterführend, begeisternd, bereichernd ... - vorgestellt und vorstellbar wird, je mehr die Sache und ihre Bearbeitung für sie Sinn macht; - je intensiver sie in die Planung deren Bewältigung einbezogen werden; - je einsichtiger sie selbst und ihre besonderen Fähigkeiten dabei gefragt sind, je deutlicher sie sich wahrgenommen sehen und je eingebundener sie sich selbst erleben; - je selbständiger sie bereits über verschiedene Methoden der Erarbeitung, Gestaltung und Darstellung der Sache verfügen - von der Suche nach Quellen über Ordnen von Wissen, von Exzerpieren über Gliedern, von Entscheiden bis Urteilen, von Zusammenfügen über Wiedergeben bis hin zu Konzepten, wie Ergebnisse zu welchen Zwecken wie weitergegeben werden können; - je mehr sie sich selbst in den Ergebnissen der gemeinsamen Arbeit (wieder-)erkennen können, je mehr ihre individuellen Arbeitsergebnisse sichtbar werden und die gemeinsame Ergebnisdarstellung sie mit Stolz erfüllt; - je verantwortlicher sie in die Beurteilung der eigenen Leistung und der Gemeinschaftsergebnisse einbezogen werden.  Prof. Thurn: Schulen auf dem WegIndividualisierung – unerreichbares Ziel am Ende allzu steiniger Wege? Gegen alle Widrigkeiten und Unzulänglichkeiten haben sich dennoch viele Schulen längst auf den Weg gemacht, einem selbst gesetzten Ziel nach mehr Individualisierung näher zu kommen. Sie haben die Hirnforschung ernst genommen, der zu Folge zwischen dem Lern- und dem Entwicklungsalter von Kindern bis zu vier Jahren liegen können, ohne dass schon von Behinderung gesprochen werden muss. Sie haben in ihrer Praxis erkannt, dass binnendifferenzierender Unterricht als Antwort auf die Verschiedenheit von Kindern nicht ausreicht, auch wirklich allen Kindern einer Gruppe gerecht zu werden. Sie haben erfahren, dass Kinder voneinander so viel lernen können wie von ihren Erwachsenen, oft sogar leichter. Konsequent haben einige beispielsweise die immer schon und in allen Schulformen vorhandene Heterogenität der Lerngruppen noch erhöht, statt sie auszugleichen, indem sie Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf nicht mehr ausgrenzten, Differenzierungskurse wieder abschafften, ja auch noch Jahrgänge mischten, womit die Notwendigkeit zur Individualisierung offensichtlich und daher unumgänglich wurde.  Sie haben damit begonnen, ihren Unterricht zu verändern – guten Unterricht zu inszenieren, der nach Hilbert Meyer auf sinnstiftender Kommunikation, auf Sinnkonferenzen, Lerntagebüchern, Reichtum an Inszenierungstechniken, individuellem Fördern, Geduld und Zeit, individuellen Lernstandsanalysen und entsprechenden Förderplänen, passgenauen Übungsaufträgen, gezielten Hilfestellungen und einer vorbereiteten Umgebung für selbst organisiertes Lernen beruht (Meyer 2004) – also auf Individualisierung zielt.  Sie suchen danach, in den Mittelpunkt ihrer unterrichtlichen Arbeit ein wirklich wichtiges Problem, eine herausfordernde Aufgabe zu rücken und dann jedem einzelnen Individuum zu vermitteln, dass er oder sie für die Lösung oder Bewältigung gefragt und wichtig ist.  Sie haben den Mut gefunden, den Lernenden Zeit für die eigenständige Bearbeitung der Aufgaben zu geben und halten aus, dass die Ergebnisse weniger eindrucksvoll sind als die früher von ihnen an der Tafel zusammengefassten und von allen kopierten Kernsätze. Sie haben gelernt, mit den Lücken zu leben, denn das eigenständige Arbeiten dauert so viel länger, als unsere überfrachteten Lehrpläne uns gestatten. Sie organisieren individualisierendes Lernen neben dem klassischen Stundenplan, beispielsweise im Elsa Brandström-Gymnasium, wo im „offenen Unterricht“ Schülerinnen und Schüler dreimal in der Woche 90 Minuten lang ihr Lernen selbst arrangieren, sich in eigene Arbeiten versenken, an unterschiedlichen Orten mit verschiedenen Experten arbeiten: selbst bestimmt an ihren Themen und auf unterschiedlichen Niveaus ihre Lernprozesse in die eigene Hand nehmen. Dafür haben sie zuvor mit den Erwachsenen vertraglich Regeln vereinbart und deren Einhaltung bestätigt. Sie konnten sicher sein, dass ihre individuellen Kompetenzzuwächse und die Qualität ihrer Produkte nach vereinbarten und vorher bekannten Kriterien fachlich/kognitiv, kreativ, methodisch und sozial bewertet werden – individuell! (Erika Risse: Man kann der Verschiedenheit der Köpfe gerecht werden“, In: E&W, 7-8, S. 9-10).  Andere Schulen arbeiten mit individuellen Förder- und Forderplänen, mit Lernvereinbarungen und individuellen Rückmeldungen statt mit Zensuren. Andere erwarten von den Lernenden, dass sie ihren Zuwachs an selbstbestimmtem, selbstorganisiertem und selbstverantwortetem Lernen durch Jahresarbeiten unter Beweis stellen, für die sie sich Betreuer ebenfalls selbständig suchen. Wieder andere setzen ihre Ansprüche an individualisierendes Lernen in integrierenden und jahrgangsübergreifenden Gruppen durch Theaterstücke der gesamten Lerngruppe in Szene, beispielsweise im Fremdsprachenlernen, wobei jedes Individuum eine Rolle erhält, die zunächst über seinem Können liegt und eine wirkliche Herausforderung beinhaltet, in der Summe später ein Gemeinschaftswerk ergibt, das jeden einzelnen stolz macht: jene mit Hauptrolle wie auch jene mit Nebenrollen, die andere Zuständigkeiten mit übernommen haben. Noch andere Schulen beginnen mit der Umgestaltung von Klassenräumen und Fluren zu Lernzentren, in denen anregende Lernmaterialen frei zugänglich sind, Ausstellungsflächen geschaffen werden, Einzel- und Gruppenarbeitsplätze ihren Ort haben, individuelles Arbeiten möglich wird. Viele Schulen haben sich auf den Weg gemacht, von diesen können wir lernen. Lernen können wir auch von den Beiträgen in diesem Heft. Andere Schulen machen sich mit großem Mut und gegen althergebrachte Widerstände auf den Weg, wie die Bugenhagen-Schulen in Hamburg, die längst schon auf Inklusion setzen und Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in ihrer Mitte haben. Ab dem kommenden Schuljahr setzen sie auf Jahrgangsmischung der gesamten Primarstufe (1 bis 4) und in ihrer Gesamtschule die Jahrgänge 5 bis 7 und 8 bis 10. Alle diese Schulen haben sich mit dem Anspruch an Individualisierung ein beinahe unerreichbar hohes Zielgesetzt und suchen nun nach Hilfen, nach Vorbildern, nach Unterstützung, hier bei uns, nicht (nur) in Skandinavien. Ohne ihr großes Ziel wären die vielen kleinen und oft äußerst mühseligen kleinen Schritte kaum mehr als entmutigende Sisyphusarbeit. Die kleinen Schritte aber setzen auch die Köpfe in Bewegung, schaffen neue Wirklichkeiten - und mit den wachsenden eigenen Erfahrungen in Richtung Individualisierung werden langsam die Schritte mutiger und zunehmend immer größer.  Helfen können diesen Schulen Standards, die aus der Arbeit „bewegter“ Schulen heraus entwickelt wurden und mit deren Hilfe Schulen im Aufbruch die Qualität ihrer Arbeit messen können. Es sind allerdings Standards, die nicht wieder das Individuum in der Schule auf sich zurückwerfen, es typisieren, Kinder als Gewinner auszeichnen oder als Verlierer zurücklassen! Diese Standards setzen Standards auf mehreren Ebenen: Standards für Individualisierung im täglichen Umgang miteinander – für Individualisierung des Lernens – für Individualisierung des Leistens. Sie sind überprüfbar als Standards für pädagogisches Handeln, als Standards für schulische Rahmenbedingungen und als Standards für systemische Rahmenbedingungen. Sie beziehen sich nicht nur auf Individualisierung an sich, sondern auch auf das dafür notwenige andere Lernen, auf Schule als Gemeinschaft, in der Demokratie gelernt und gelebt wird und auf Schule als lernende Institution (Annemarie von der Groeben,2005). Prof. Thurn: LernbegleiterIndividualisierendes Lernen gelingt auf der Ebene der Lernbegleiter um so besser,  - je mehr diagnostische Kompetenzen sie sich aneignen konnten und weiter können, je umfassender ihr fachliches Können und je reicher ihre methodischen Fähigkeiten sind - je ausgeprägter zudem ihre pädagogische Zuwendung; - je genauer sie die Lernenden und ihre Leistungsmöglichkeiten kennen, im Blick haben, mit gezielten Übungsvorschlägen erweitern und ihre Lernfortschritte sorgfältig verfolgen – je mehr Zeit sie also für den einzelnen Lernenden zur Verfügung haben; - je vertrauensvoller sie mit den Lernenden umgehen und diese mit ihnen, je mehr sie diese herausfordern und fördern wollen, ihre Stärken wahrnehmen und in ihren Fehlern Chancen entdecken; - je vielfältiger sie die Leistungen der Lernenden wahrnehmen, sichtbar machen, nachweisen und präsentieren können – und je weniger sie sie dafür miteinander vergleichen, konkurrenzorientiert prüfen, (ab-)qualifizieren und herunterstufen müssen; - je mehr sie ihre Rolle neu sehen lernen, sich mehr als Lernbegleiter und Moderatoren von Lernprozessen denn als Instruktoren und Prüfer verstehen – je deutlicher und mutiger sie Selbstständigkeit und Autonomie der Lernenden fördern statt sie in systemischer Abhängigkeit zu halten. 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