Kriminalität

 

Der Zusammenhang zwischen

Bildung und Kriminalität ist größer, als wir denken ...

 

Bessere Bildung für alle lässt uns alle besser leben und ruhiger schlafen. Am Beispiel der Verhinderung von Kriminalität, ob aus der Sicht der Opfer oder aus der Sicht der Täter, wird besonders eindrucksvoll belegt, wie lohnend die Förderung jedes Einzelnen in unserer Gesellschaft ist. Es macht umgekehrt auch deutlich, wie sehr es sich rächt, wenn man das Menschenrecht auf gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe mit Füßen tritt, indem man gleichberechtigte Teilhabe am Bildungsprozess einschränkt oder verhindert, was heute noch permanent  und systematisch passiert.  

 

 Wirksame Bildungsinvestitionen

 Unzureichende Bildung:

 Folgekosten durch Kriminalität

 Prof. Dr. Horst Entorf,  Philip Sieger

 Im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung, 2010

 

Im Sommer 2009 haben mehr als 58.000 junge Menschen die Schule ohne einen Hauptschulabschluss verlassen und sehen sich mit der oben skizzierten Perspektivlosigkeit konfrontiert. Aber ist bei einigen dieser Jugendlichen die Gefahr größer als bei besser Gebildeten, auf die schiefe Bahn zu geraten und in Illegalität und Kriminalität abzugleiten? Werden mit einer solchen Annahme nicht billige Vorurteile bedient oder Jugendliche stigmatisiert? Schon lange ist bekannt, dass Gefängnisinsassen niedrigere Schulabschlüsse vorweisen als die Durchschnittsbevölkerung.

Aber spielen für das Entstehen kriminellen Verhaltens nicht individuelle und familiäre Faktoren eine größere Rolle als der erworbene Schulabschluss? Führt nicht u.U. das Straffälligwerden in jungen Jahren zu weniger Zeit für Bildung oder schlechten Chancen auf Ausbildung, so dass Bildung nicht ursächlich für Kriminalität ist?  Diese Fragestellungen haben Prof. Dr. Horst Entorf von der Universität Frankfurt/M. und sein Mitarbeiter Philip Sieger in der vorliegenden Studie untersucht. Im Rahmen des Projektes „Folgekosten unzureichender Bildung“ der Bertelsmann Stiftung ist es ihnen gelungen, erstmals für Deutschland zu belegen, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen unzureichender Bildung in Form eines fehlenden Hauptschulabschlusses und kriminellem Verhalten gibt. Ein chancengerechteres Bildungssystem könnte damit eine deutliche Reduktion der Gewalt- und Eigentumsdelikte bewirken.

Vielfaches persönliches Leid von Opfern und Angehörigen würde vermieden, jeder könnte sich in seinem täglichen Leben sicherer fühlen. Hochgerechnet bedeutet dies: Durch eine Halbierung des Anteils der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss im Jahr 2009 hätten 416 Fälle von Mord und Totschlag, 13.415 Fälle von Raub und Erpressung sowie 320.000 Diebstähle vermieden werden können. 1,42 Milliarden Euro an Folgekosten aufgrund kriminellen Verhaltens könnten – konservativ geschätzt – in nur einem Jahr eingespart werden.  (Zitat: Seite 5)

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Individuelle und familiäre Faktoren, wie Vorstrafen im Elternhaus oder Konfessionslosigkeit, haben einen signifikanten Einfluss auf kriminelles Verhalten – das zeigt auch die vorliegende Studie. Auf diese Faktoren kann aus einer gesellschaftspolitischen Sicht allerdings kaum Einfluss genommen werden. Jugendliche nicht „abzustempeln“ oder „abzuschreiben“, sondern ihnen durch Bildung Chancen und eine Perspektive für ihr eigenes Leben zu eröffnen, in Bildungsinstitutionen soziales Miteinander, Fähigkeit zur Empathie und gesellschaftliche Werte zu erlernen, ist hingegen eine vielversprechende Maßnahme zur Kriminalprävention.

Zudem würden Folgekosten in Form von Transferleistungen, im Gesundheitsbereich oder langfristig durch entgangenes Wachstum eingespart. Allen Jugendlichen faire Bildungschancen zu eröffnen ist allein schon eine moralische Verpflichtung. Die dafür notwendigen Investitionen zahlen sich aber darüber hinaus für die gesamte Gesellschaft aus. Dafür liefert die Studie von Entorf und Sieger einmal mehr einen eindrucksvollen Beleg.

Vorrangige Aufgabe der Bildungspolitik muss es daher sein, dass deutlich weniger Jugendliche die Schule ohne einen Hauptschulabschluss verlassen. Welche Reformansätze dazu aus Sicht der Bertelsmann Stiftung verfolgt werden müssten, haben wir am Ende der Studie kurz skizziert.

Ein Blick auf die Gruppe der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss gibt einen ersten Hinweis, in welchen Bereichen des Bildungssystems angesetzt werden muss. Über die Hälfte der jungen Menschen ohne Hauptschulabschluss kommt aus Förderschulen, 27 Prozent haben Hauptschulen besucht. Das politisch gesetzte Ziel der Halbierung der Zahl der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss kann nur erreicht werden, wenn wir das bisherige Förderschulsystem überdenken. Mit Blick auf die Hauptschulen sind die Schulen zu identifizieren, in denen besonders viele Schülerinnen und Schüler ihren Abschluss nicht schaffen. Diese Hauptschulen brauchen sofortige Unterstützung durch ein Sonderprogramm. Hier müssen die besten Lehrer und Schulleiter zum Einsatz kommen – Anreize, auch finanzieller Art, sollten dafür gesetzt werden. In diesen Schulen muss alles daran gesetzt werden, schwierige Entwicklungsmilieus zu verändern, damit eine neue Lernkultur, ein neues Schulklima entstehen kann. Das wird in einigen Fällen aber auch bedeuten, dass Schulformen zusammengelegt und Schulen geschlossen werden müssen.

Das Erreichen eines  Schulabschlusses alleine eröffnet jungen Menschen allerdings noch keine Lebensperspektiven. Der entscheidende Schritt, der über die Integration in den Arbeitsmarkt und die sozialen Teilhabechancen entscheidet, ist der Abschluss einer vollqualifizierenden beruflichen Ausbildung. Auch im berufsbildenden System sind daher tiefgreifende Veränderungen notwendig. Jedem ausbildungswilligen Jugendlichen sollte ein Ausbildungsplatz – in betrieblicher oder in schulischer Form – offen stehen. Der Maßnahmendschungel des Ãœbergangssystems muss abgebaut werden und keine Ãœbergangsmaßnahme sollte ohne qualifizierenden Abschluss enden. Die notwendigen bildungspolitischen Reformen auf den Weg zu bringen erfordert politischen Mut, Weitblick und die Bereitschaft zu grundlegenden Veränderungen. Diesen Herausforderungen müssen wir uns stellen – ein „weiter so“ kann es weder moralisch noch gesellschaftlich mehr geben. (Zitat: Vorwort, S. 6/7)

 Opfer einer kriminellen Straftat zu werden gehört, neben der Befürchtung den Arbeitsplatz zu verlieren, zu den größten Ängsten der Bürger unserer Gesellschaft. Neben dem persönlichen Leid und den individuellen Schäden bei den Opfern krimineller Handlungen, bürdet kriminelles Verhalten der gesamten Gesellschaft hohe Kosten auf. Die volkswirtschaftlichen Schäden durch Kriminalität werden auf ca. vier bis sieben Prozent der nationalen Wirtschaftsleistung bzw. des jährlichen Bruttoinlandproduktes (BIP) geschätzt (Entorf/Spengler 2002).  Kriminelles Verhalten zu verhindern ist daher ein wichtiges gesellschaftliches Anliegen. Kindern und   Jugendlichen durch Bildung eine Perspektive für ihr weiteres Leben zu eröffnen und in Bildungsinstitutionen gesellschaftliche Werte, Empathie und soziales Miteinander einzuüben, erscheint dabei als eine mögliche Strategie der Kriminalprävention. Ein Blick auf die Bildungsstruktur von Haftinsassen stützt diesen Ansatz. Ein großer Anteil der Straftaten wurde von Personen mit niedriger Schulbildung verübt.

Bildungspolitische Maßnahmen könnten ganz erheblich dazu beitragen, Fälle von Mord, Totschlag und anderer Gewalt- und Eigentumsdelikte zu reduzieren und damit verbundene Kosten für Opfer und Gesellschaft einzusparen. (Seite 8)

  …

 

 Förderschulsystem konsequent umbauen

 

In Deutschland hatten im Jahr 2008/2009  482.400 Schülerinnen und Schüler der Primar- und der Sekundarstufe einen besonderen Förderbedarf. Von ihnen wurden 81,6 Prozent in eigens dafür eingerichteten Förderschulen unterrichtet. 18,4 Prozent besuchten Schulen, die gemeinsamen Unterricht für Kinder mit und ohne Förderbedarf anbieten (KMK 2010).

Im Bundesdurchschnitt hat im Jahr 2008 jedoch über Dreiviertel aller Förderschulabgänger die Schule ohne einen Regelschulabschluss verlassen. Offensichtlich gelingt es im Rahmen der separaten Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf nicht, diesen jungen Menschen durch zumindest das Erreichen eines Hauptschulabschlusses Chancen auf eine spätere Ausbildung, Berufstätigkeit und somit Teilhabe an der Gesellschaft zu gewährleisten.

Zudem belegen empirische Studien zumindest für Kinder und Jugendliche im Förderschwerpunkt Lernen – also die große Mehrheit derjenigen mit besonderem Förderbedarf, dass sie in allgemeinen Schulen besser lernen würden als in Förderschulen. Sie profitieren vom gemeinsamen Unterricht ohne dass andere, leistungsstärkere Kinder dadurch beeinträchtigt werden. Das bisherige Förderschulsystem muss deswegen überdacht und deutlich reduziert werden. Dazu hat sich Deutschland mit der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Übrigen auch rechtlich verpflichtet.

Der notwendige Umbau des Förderschulsystems hin zu einem inklusiven Schulsystem ist ein langwieriger Prozess: Es bedarf anspruchsvoller Qualifizierungsmaßnahmen und teilweise einer veränderten Ausstattung der Schulen. Viele Betroffene und Beteiligte müssen zudem überzeugt und mitgenommen werden. Der Umbau des Systems darf keinesfalls überhastet zu Lasten der Kinder mit speziellem Förderbedarf erfolgen. Entscheidend ist aber, dass in allen Bundesländern und allen Schulformen jetzt die Weichen in Richtung eines inklusiven Schulsystems gestellt und konkrete Zeitpläne für die Umsetzung vorgelegt werden. Je zügiger der Umbauprozess gelingt, desto schneller werden sich Erträge in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht zeigen.

 

Hauptschulen – schwierige Milieus

identifizieren und verändern

 

Während es mancherorts in Deutschland durchaus gute Hauptschulen gibt, an denen Abschlüsse auch Anschlüsse in den Ausbildungsmarkt darstellen, müssen die Hauptschulen, in denen zu viele Jugendliche an ihrem Schulabschluss scheitern, identifiziert und gezielt verändert werden. Forschungsarbeiten von Baumert u.a. weisen darauf hin, dass Schulen unterschiedliche Entwicklungsmilieus bieten und dass die spezifische soziale Zusammensetzung ihrer Schülerschaft und ihre Lage in bestimmten Stadtteilen einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder und den Erfolg der einzelnen Schule haben (Baumert et al. 2006). Gerade Hauptschulen verfügen oft über „schwierige Entwicklungsmilieus“, zudem wird in Hauptschulen die Leistungsentwicklung am stärksten durch kritische Voraussetzungen beeinträchtigt. Solche Schulen mit „schwierigen Milieus“ befinden sich meist in sozialen Brennpunkten, hier lernen überwiegend Jugendliche, die aus Familien kommen, in denen die Eltern keine Berufsausbildung haben, in denen Vater und/oder Mutter erwerbslos sind oder in denen Deutsch nicht die Familiensprache ist. Für diese so betroffenen Hauptschulen sollte ein Sonderprogramm entwickelt werden, hier muss gezielt und zusätzlich investiert werden. Grundsätzlich gilt: Der Ungleichheit in den Ausgangslagen der Kinder kann nur durch eine ungleiche Mittelverteilung begegnet werden. Diese Schulen brauchen die besten Lehrer und Schulleiter sowie weitere pädagogische Fachkräfte, die die Kinder und ihre Eltern begleiten und unterstützen.

Dafür müssen finanzielle Anreize gesetzt werden. Wer sich außerordentlich engagiert und in Schulen in sozialen Brennpunkten jeden Tag vor schwierigen Aufgaben steht, muss dafür Wertschätzung erhalten, auch in monetärer Form. Ein vorrangiger Umbau dieser Schulen zu Ganztagsschulen könnte darüber hinaus wesentlich zu mehr Chancengerechtigkeit und einer Verbesserung des Lernerfolgs der Kinder beitragen. Gerade Kinder aus bildungsfernen Schichten und mit Migrationshintergrund, aber auch Kinder berufstätiger Eltern profitieren von einem Ganztagsangebot, in dem Lern- und Ruhephasen sowie außerschulische Angebote kombiniert werden. Die Schule bleibt ein Ort des Lernens, entwickelt sich aber in Kooperation mit außerschulischen Trägern wie Vereinen, Kirchen, Migrantenorganisationen, Jugendhilfe auch zu einem Zentrum nicht-curricularer Angebote weiter, wo neben fachlichen verstärkt auch soziale, sportliche, musische und künstlerische Fähigkeiten der Kinder gefördert werden können.

Wenn eine derartige Veränderung der einzelnen Schulen aufgrund besonders problematischer Milieus nicht erfolgversprechend ist, müssen auch Schulen geschlossen bzw. mit anderen Schulformen zusammen gelegt werden können. Das zentrale Ziel muss es sein, den Kindern ein Aufwachsen und Lernen unter besseren Entwicklungsmilieus zu ermöglichen. Kinder brauchen Vorbilder unter ihres Gleichen, die sie zum Lernen anspornen und ihnen neue Wege aufzeigen. Lehrer brauchen für guten Unterricht das Gefühl, etwas bewegen und motivierende Leistungsanforderungen stellen zu können. An manchen Stellen werden diese Herausforderungen von bildungspolitischen Akteuren ebenso wie von Eltern, Lehrern und Schülern ein Umdenken, mehr Flexibilität bis hin zu einem Paradigmenwechsel erfordern. Im Interesse der Kinder und unserer Gesellschaft sollten wir bereit sein, diese Schritte zu gehen. (Zitat: S. 55/56)

 

Die ganze Studie ist hier zu finden:

 http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-79468158-D11DDBE7/bst/xcms_bst_dms_32620_33011_2.pdf

 

 

 

 

 

 
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