Barriere im Kopf

 

"Viele haben im Kopf eine Barriere"

 

11.01.2012  INKLUSION Deutschland geht ins Jahr der Inklusion, um die Vorhaben der UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Länder und Behörden sind zu zögerlich, findet der Vorstand der "Aktion Mensch", Martin Georgi.

INTERVIEW CHRISTIAN FÃœLLER

taz: Herr Georgi, 2012 soll das Jahr der Inklusion werden. Auch die Aktion Mensch findet dieses Thema wichtig. Was ist Inklusion eigentlich?

Martin Georgi: Inklusion drückt eigentlich etwas Selbstverständliches aus: dass Menschen mit Behinderung in allen Bereichen des Lebens von Anfang an dabei sind. Dass sie dazugehören - egal, ob es sich um Schule, Arbeit oder Freizeit handelt. Mit dem Begriff der Inklusion kann in Deutschland kaum jemand etwas anfangen, während bezeichnenderweise jeder sofort die Worte exklusiv und Exklusion versteht.

Woran liegt das?

Viele Menschen haben im Kopf eine Barriere - und die ist viel wirksamer als die Einschränkung, die Menschen mit Behinderung selbst haben. Viele Bürger begegnen im Alltag kaum Menschen mit Behinderung. Und wenn sie auf diese treffen, sehen sie nur ein vermeintliches Defizit, ein Sorgenkind. Unsere Organisation hieß früher auch so, heute nennen wir uns einfach: Aktion Mensch. Das sollte die ganze Gesellschaft lernen. Es geht um Menschen, nicht um Sorgenkinder.

Wie weit ist Deutschland mit der Inklusion behinderter Menschen, die ja immerhin in einer völkerrechtlich bindenden UN-Konvention steht?

Als Organisation sind wir enttäuscht. In Deutschland tut sich unseres Erachtens noch viel zu wenig. Die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ist ja nicht vom Himmel gefallen. Die wurde jahrelang vorbereitet und diskutiert, seit März 2009 ist sie bereits in Kraft.

Immerhin gibt es einen Nationalen Aktionsplan.

Den gibt es, das finden wir als ersten Schritt auch gut. Die Bundesregierung verwendet ja sogar das Wort Inklusion, obwohl sie es lange Zeit vermieden hat, das zu tun. Dennoch, der Aktionsplan ist aus der Sicht der Menschen mit Behinderung nicht ausreichend: Er ist überwiegend eine Ansammlung von bereits Bestehendem und von Absichtserklärungen.

Wo sehen Sie die Schwächen?

Die liegen eindeutig auf der politischen Ebene. Bei der Politik ist noch nicht angekommen, dass das Thema Menschen mit Behinderung keine Randgruppe betrifft, sondern ein Querschnittsthema durch alle Politikfelder hindurch ist. Es gibt in Deutschland rund 10 Millionen Menschen mit einer Behinderung, die in ihrem Alltag, aber vor allem durch widrige Bedingungen behindert werden. Viele Politiker glauben, mit ein paar warmen Worten ist diesen Menschen geholfen. Das ist aber falsch. Die Barrieren aller Art müssen weg. Dazu haben sich die Politiker verpflichtet, denn aus der Konvention ergibt sich unmittelbar geltendes Recht. So haben alle Kinder zum Beispiel das Recht, auf eine wohnortnahe Regelschule zu gehen.

Das ist eine der wichtigsten Forderungen der UN-Konvention für Deutschland: dass aus seinem extrem exklusiven Schulsystem mit vielen Spezial- und Sonderschulen ein inklusives wird. Ist das überhaupt machbar?

Es wird zum Schuljahresbeginn 2012 nicht über Nacht lauter inklusive Schulen geben. Das ist klar. Aber selbstverständlich ist Inklusion machbar. Viele Schulen haben sich schon auf den Weg gemacht, inzwischen kommt auch sukzessive politische Unterstützung aus den Bundesländern dazu. Insgesamt stehen wir sicher vor einem Prozess, der sich über einige Jahre hinziehen wird.

Was tun Sie dafür?

Wir unterstützen jene bahnbrechenden Schulmodelle, die es heute schon gibt. Und wir versuchen, sie dabei besser sichtbar zu machen - sodass andere Schulen lernen können, wie man inklusiven Unterricht für sehr heterogene Gruppen ermöglicht. Die Sophie-Scholl-Schulen in Bad Nauheim und in Gießen sind solche Schulen. Auch der Bundesverband evangelische Behindertenhilfe nimmt mit einem Verbund von fünf deutschen Schulen auf dem Weg zum gemeinsamen Lernen eine Vorreiterrolle ein. Es gibt noch viel mehr solcher Beispiele.

Was ist das Ziel?

Das ist sehr klar in der UN-Konvention beschrieben. Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf müssen das wohnortnahe Angebot einer Schule bekommen, in der Inklusion Realität ist. Das bedeutet, niemand soll mehr gegen seinen Willen 30 oder 40 Kilometer fahren müssen, um eine geeignete Schule besuchen zu können.

Oft ist es aber genau andersherum: Da werden etwa in Augsburg zwei gehörlose Mädchen, obwohl die Regelschulen vor der Tür sie aufnehmen wollen, als behindert diagnostiziert und sollen nun weit weg zu einer Sonderschule fahren.

Es ist vollkommen inakzeptabel, was viele Eltern und Kinder zum Teil noch erdulden müssen. Ich kann deren Verärgerung und Wut vollkommen verstehen. Kinder werden von ihren langjährigen Spielkameraden getrennt, nur weil die Schulbehörden nicht verstanden haben, dass es ein Recht auf gemeinsamen inklusiven Unterricht gibt.

Was können Sie in solchen Fällen tun?

Wir haben ein offenes Ohr für Betroffene. Wir machen auch solche Fälle öffentlich.

Die Kultusminister haben nun ihrerseits so etwas wie einen Aktionsplan …

… dieses Wort sollte man an dieser Stelle so bitte nicht verwenden. Wir haben erwartet, dass die Schulminister wirklich Termine und Fristen nennen, bis wann sie Inklusion verwirklichen wollen. Das ist nicht der Fall. Wir brauchen aber diesen klaren Plan mit konkreten Umsetzungsvorschlägen. Die Kinder und ihre Eltern haben ein Recht darauf.

 

Das Interview ist dem Blog http://incalledabei.wordpress.com entnommen, der die Trebnitzer Inklusionswerkstätten für Schule und Zivilgesellschaft vorbereitet

 

Martin Georgi

ist Vorstand für Marketing bei der Aktion Mensch. Georgi kam von der Blindenmission Christoffel. Er war zuvor Geschäftsführer von Amnesty International.

 

 
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