Die delegierte Antwort

 

Die delegierte Antwort: Der Elternwille

 

Die Sowohl-als-auch-Strategie stattet die Sonderschulen mit einer verlässlichen Bestandsgarantie aus. Diese Bestandsgarantie bedarf natürlich einer Legitimation: Warum soll oder muss es eigentlich weiterhin Sonderschulen geben?

Eine einleuchtende und überzeugende Rechtfertigung wäre ein wissenschaftlich belastbarer Nachweis ihrer qualifizierten pädagogischen Wirksamkeit. Genau daran aber mangelt es aus verschiedenen Gründen. Die großen internationalen und nationalen Vergleichsstudien (PISA, IGLU, KESS usw.) sparen regelmäßig die Sonderschulen aus. In der wissenschaftlichen Sonderpädagogik selbst sind empirische Effizienzstudien äußerst selten, allenfalls die Lernbehindertenpädagogik kann hier respektable Untersuchungen vorlegen. So bleibt es bei der unbewiesenen „optimalen Förderung“, einem geflügelten Wort, das die Sonderschulen gerne als Rechtfertigungsformel vor sich hertragen.

In dieser argumentativen Notlage nehmen die Widersacher der Inklusion Zuflucht zu einer „demokratischen“ Begründung der Schulform Sonderschule. Die Sonderschule – so die Begründung der delegierten Antwort – entspreche dem Elternwillen.

„Es gibt Eltern, die für ihre Kinder den gemeinsamen Unterricht wünschen. Es gibt aber auch Eltern, die sich den Unterricht an einer Förderschule wünschen. (…) Die Förderschule muss als Angebot fortgeschrieben werden. Es darf kein Entweder-oder, sondern es muss ein Sowohl-als-auch geben“, so Marie-Theres Kastner, CDU-Abgeordnete im Düsseldorfer Landtag, im Dezember 2009. Durch den Verweis auf den Elternwillen wird also die Begründungspflicht gleichsam an die Eltern delegiert. Die Eltern wollen und wünschen diese Schule, also ist sie berechtigt.

Der Rekurs auf den Elternwillen ist überraschend und historisch neu. Es ist nicht bekannt, dass die Sonderpädagogik in ihrer über 100-jährigen Geschichte jemals für das Elternwahlrecht plädiert hätte. In manchen Förderschwerpunkten, zum Beispiel in der Lernbehindertenpädagogik, musste die Sonderschule sogar gegen den Willen der Eltern durchgesetzt werden. Und in allen Förderschwerpunkten gab es bis zum Erscheinen der UN-Konvention eine gesetzlich verbindliche Pflicht zum Besuch der Sonderschule. Die behinderten Kinder wurden über viele Jahrzehnte etikettiert und auch gegen den Willen von Eltern zwangsweise in Sonderschulen „eingewiesen“. Angesichts dieser Tradition einer vollständigen Missachtung des Elternwillens verwundert dieser „Paradigmenwechsel“. Nun, wo der Besuch einer Sonderschule nicht mehr Pflicht ist und auch nicht mehr sein darf, wird Wahlfreiheit für Eltern behinderter Kinder reklamiert. Mit anderen Worten: Nach dem Verlust der Vormundschaft ist das Elternwahlrecht für Sonderschulen die letzte Möglichkeit der existentiellen Absicherung.

Bildungspolitiker aller Couleur und aller Bundesländer haben schon bald nach der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention angekündigt, dass sie das Elternwahlrecht „stärken“ wollen. Diese schulpolitische und -rechtliche Innovation wird von den Kultusministern gerne mit dem Gestus von demokratischer Toleranz vorgetragen und mit dem Respekt vor dem Elternwillen begründet.

Die Abschaffung der Sonderschulpflicht ist indes nicht ein Ausdruck einer besonderen Reformfreudigkeit, sondern schlichtweg ein zwingendes Gebot der UN-Konvention. Diese besagt bekanntlich, dass kein Kind wegen seiner Behinderung vom Besuch der allgemeinen Schule ausgeschlossen werden darf. Alles andere als eine vollständige Abschaffung der Sonderschulpflicht wäre konventions- und verfassungswidrig.

Von hohem Interesse ist die weiterführende Frage, wie denn das Elternwahlrecht konkret ausgefüllt wird. Dürfen die Eltern behinderter Kinder ausnahmslos alle Schulformen des gegliederten Schulwesens wählen? Es wäre fatal, wenn in der Sekundarstufe ausschließlich die Hauptschule für die Mehrzahl von Eltern behinderter Kinder die einzige Wahlmöglichkeit wäre; die inklusive Schule wäre dann schlichtweg die Restschule der Nation. Auf eine Inklusionsreform, die de facto auf eine Zusammenlegung von Hauptschule und Sonderschule hinausläuft, wird inklusive Pädagogik sich nicht einlassen können und dürfen.

 
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