Dr. Schumann "Menschenrecht auf Bildung"

 

Frau Dr. Brigitte Schumann zeichnet ein umfassendes Bild unserer Bildungsgeschichte seit über 200 Jahren bis heute, das erst deutlich macht, warum unser Bildungssystem so ist, wie es heute ist, und erläutert dann ausführlich, warum das Recht auf Bildung das Menschenrecht auf inklusive Bildung bedeutet.

 

Das Menschenrecht auf Bildung –

 

Herausforderung und Chance für Deutschland

 

Brigitte Schumann

 

 Drei Merkmale sollen als Leitmotive deutscher Bildungsgeschichte herausgearbeitet werden: der ideologische Kampf gegen eine Schule für alle, die Aussonderung der Armen und Behinderten und die Vererbung von Bildung.

 Vor diesem Hintergrund wird die These nachvollziehbar, dass die Umsetzung der UN- Menschenrechtskonvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen – von der Vollversammlung der Vereinten Nationen im Dezember 2006 verabschiedet und von der Bundesregierung im Dezember 2008 ratifiziert – als ganz besondere Herausforderung für Politik, Gesellschaft und Schule in Deutschland verstanden werden muss.

 Die völkerrechtlich verbindlichen und unmissverständlichen Forderungen der Konvention enthalten zugleich die Chance, die traditionell starken politischen und gesellschaftlichen Abwehrkräfte gegen eine tiefgreifende Schulstrukturreform in Deutschland mit Hilfe einer demokratischen Schulbewegung zu überwinden.

 Die zentrale Forderung  nach einem inklusiven Schulsystem eröffnet unter bestimmten zivilgesellschaftlichen Voraussetzungen eine bildungspolitische Transformationsperspektive für ein eingliedriges System, die es bislang trotz der erdrückenden empirischen Beweislast gegen das bestehende selektive Schulsystem so nicht gab.

 

 

Ausgewählte Literatur

 

Hänsel, D./ Schwager, G.: Die Sonderschule als Armenschule. Vom gemeinsamen Unterricht zur

Sondererziehung nach Braunschweiger Muster. Bern 2004

Hänsel, D.: Die NS-Zeit als Gewinn für Hilfsschullehrer. Bad Heilbrunn 2006

Jungmann, Ch.: Die Gemeinschaftsschule. Konzept und Erfolg eines neuen Schulmodells. Münster

2008

Jungmann, Ch.: Erblasten der Schulstrukturdebatte. Bildungsverständnis und Schulstrukturdiskussion

in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. In: PÄDAGOGIK 2/2009, 44-48

Merkle, T./ Wippermann, C. : Eltern unter Druck. Selbstverständnisse, Befindlichkeiten und Bedürfnisse

von Eltern in verschiedenen Lebenswelten. Eine sozialwissenschaftliche Untersuchung von Sinus Sociovision im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V., Stuttgart 2008

Schumann, B.: Inklusion statt Integration – eine Verpflichtung zum Systemwechsel. Deutsche Schulverhältnisse auf dem Prüfstand des Völkerrechts. In: Zeitschrift PÄDAGOGIK 2/2009, 51-53

Seifert, W.: Bildungsmobilität: Wie weit fällt der Apfel vom Stamm?

In: Statistische Analysen und Studien. Bd. 24. Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik 2005, 3-

11

Vierlinger, R.: Steckbrief Gesamtschule. Böhlau Verlag Wien, Köln 2009

Wößmann, L./ Piopiunik, M.: Was unzureichende Bildung kostet. Eine Berechnung der Folgekosten

durch entgangenes Wirtschaftswachstum. ifo-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität

München im Auftrag der Bertelsmann Stiftung 2009

 

Quelle: http://www.ev-akademie-boll.de/fileadmin/res/otg/501909-Schumann.pdf

Mit freundlicher Genehmigung der Autorin

Der Kampf gegen eine Schule für alle

 

Der Kampf gegen eine Schule für alle

 

Schlaglichtartig wird im Folgenden mit Hilfe von Zitaten versucht, sowohl die Herausbildung und Verfestigung der konservativ-reaktionären Vorstellung von einer „begabungsgerechten Dreigliedrigkeit“ als auch die Gegenpositionen im Zeitfenster des 19., 20. und 21. Jahrhunderts bis heute darzustellen. Diese Zitate sind nicht nur für sich recht aufschlussreich. Sie beweisen auch, dass wir in Deutschland bildungspolitisch und pädagogisch tatsächlich durch die jüngste Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen massiv herausgefordert sind.

 König Friedrich Wilhelm III. von Preußen vertrat 1799 die Auffassung: „Wir sind fest von der Wahrheit überzeugt, dass nicht alle Stände im Ganzen nach einerlei Bildungsziel streben können und müssen, wenn nicht alle bürgerliche Ordnung aufhören (…) und der verderbliche Hang des Zeitalters, sich oder seine Kinder über den Stand der Geburt zu erheben, nicht genährt werden soll.“

 Der König war 1797 auf den Thron gekommen. 1806 stand mit der Niederlage gegen Napoleon die preußische Monarchie vor ihrem politischen und finanziellen Zusammenbruch. Widerwillig willigte er aus Angst vor revolutionären Erhebungen wie in Frankreich in Reformen ein. Mit der Aufgabe einer Bildungsreform wurde Wilhelm von Humboldt beauftragt und 1809 zum Leiter der Sektion für Kultus und Unterricht im preußischen Innenministerium ernannt. Dass der König alles andere als ein überzeugter Reformer war, belegt dieses Zitat. Er war ganz und gar in dem Ständedenken als gesellschaftlichem Ordnungsprinzip verhaftet. Die Bildungsziele und Bildungsansprüche sollten sich strikt an der ständischen Zugehörigkeit der Schüler orientieren und diese sollten getrennt voneinander unterrichtet werden.

 Wilhelm von Humboldt wollte dagegen eine grundsätzliche Abkehr von der Vorstellung, die den höheren Ständen eine höhere Bildung und den niederen Ständen eine niedere zuordnete: “Es gibt schlechterdings gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen, und noch mehr eine gewisse Bildung der Gesinnungen und des Charakters, die keinem fehlen darf. Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann, wenn er an sich und ohne Hinsicht auf seinen besonderen Beruf ein guter, anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger ist. Gibt ihm der Schulunterricht, was hierzu erforderlich ist, so erwirbt er die besondere Fähigkeit seines Berufs nachher sehr leicht und behält immer die Freiheit, wie im Leben so oft geschieht, von einem zum andern überzugehen.“

 Humboldt wollte die allgemeine Menschenbildung als ein für alle Menschen geltendes Bildungsprinzip durchsetzen und die nach Ständen getrennte Erziehung und Bildung abschaffen. Bildung galt ihm als Voraussetzung für ein menschenwürdiges Dasein als aufgeklärter Bürger. Die Schule für alle sollte das Gymnasium sein. Er stellte sich dementsprechend ein gestuftes Bildungswesen vor mit einem Elementar-, Schul- und Universitätsunterricht. Mit dieser Konzeption löste er die erste heftige Schulstrukturdebatte in Deutschland aus. Frustriert von den Streitigkeiten legte er sein Amt nach nur 20 Monaten nieder. Sein Nachfolger versuchte aber in seinem Sinne weiterzuarbeiten.

 1813 rief der König zur Befreiung von Napoleon auf. Er versprach dem Volk eine Verfassung und bürgerliche Freiheitsrechte. Nachdem Napoleon aber besiegt war, waren diese Vorsätze vergessen. Die Restauration setzte sich in Preußen wieder durch. Statt Freiheitsrechte zu gewähren verhängte der Preußenkönig eine Pressezensur und ordnete die Ãœberwachung der Universitäten an. Die Bildungsreform war vom Tisch und das Prinzip der ständischen Gliederung mit unterschiedlichen Bildungsansprüchen wurde bestätigt.

 Ludolph von Beckedorff, Leiter im preußischen Ministerium für geistliche und Schulangelegenheiten, beschrieb den Kurs wie folgt: „Der bürgerliche Verein, der Staat, besteht nicht dadurch, dass alle seine Mitglieder, seine Bürger, gleiche Rechte und Ansprüche besitzen, sondern dadurch, dass sie in verschiedenen Beschäftigungen, Gewerben, Betriebsamkeiten und Berufstätigkeiten leben und nach diesen auch in ganz eigentümlichen Klassen und Stände aufgeteilt sind, von denen jeder einzelne fühlt, dass er den anderen unmöglich entbehren könnte.“

 Um 1840 hatte sich die streng hierarchische, an den Ständen orientierte „Dreigliedrigkeit“ in Preußen durchgesetzt. Das Gymnasium war als Schule, die zum Abitur führt, von allen anderen Schulen abgegrenzt. Dies fand die volle Unterstützung konservativer Politiker, wie der Äußerung des Schulpolitikers und Gymnasiallehrers Jacob Curtmann zu entnehmen ist: „Die Einteilung der Schulen in Gymnasien, Realschulen und Volksschulen ist eine Scheidung nach dem Stande und keine willkürlich ersonnene. Man besorge deshalb auch nicht sogleich die Entstehung eines neuen Kastengeistes, wenn die Stände schon in den Schulen getrennt werden. Die Trennung besteht faktisch doch und wird nur desto fühlbarer, je weniger sie geregelt ist.“

 Gegen diese Trennung und damit einhergehende Bildungsbegrenzung für die Mehrheit der Gesellschaft richtete sich u. a. die Revolution von 1848. Gustav Thaulow, Professor für Pädagogik und Psychologie in Kiel, begründete 1848 die Kritik daran wie folgt: „Die Psychologie lehrt, dass über die Anlagen und Neigungen der Kinder vor dem 12. Lebensjahre wenigstens nichts Bestimmtes gesagt werden kann. (…) Wer kann wissen, ob nicht gerade unter den Kindern der Armen – bei gleicher Pflege wie bei den Kindern der Wohlhabenden vorzugsweise große Anlagen und große Bestimmungen ans Licht treten können.“

 Wenn Gustav Thaulow wüsste, wie wenig umgesetzt sein Votum für die Förderung benachteiligter Kinder heute noch ist. Im Jahr 2009 leben 2 Mio. Kinder in Deutschland von Hartz IV-Sätzen, in denen kein einziger Euro für Bildung enthalten ist. Viele von ihnen sind angewiesen auf Kleider- und Essensausgaben von Kirchen und wohltätigen Organisationen.

 Mit der Niederschlagung der Revolution von 1848 scheiterte auch der Gedanke einer Schule für alle. Die Standesorganisation der Gymnasiallehrer konnte 1850 aufatmen. Aus ihrer Sicht war der Spuk der Gleichmacherei – Gottlob – vorbeigezogen: „Abgesehen von anderen hochwichtigen Momenten ist Geist und Art des elterlichen Hauses ein Bildungsfaktor, welchen man wahrlich nicht außer Acht lassen darf und welchen man mit dem eifrigsten Nivellieren Gottlob nicht immer wird beikommen können.“

 Nun ein großer Zeitsprung in die Weimarer Republik. Die Monarchie war abgeschafft. Das Schulsystem sollte neu geordnet werden. Sozialdemokraten und Liberale votierten für eine Schule für alle.

Aber auch dieses Mal sollte es nicht dazu kommen. „Je länger die geistig Kräftigsten und Anspruchvollsten mit allen anderen, auch den Mittelmäßigen und den praktisch, nicht wissenschaftlich Begabten unterrichtet werden, umso mehr werden sie geistiger Zuchtlosigkeit und Schlaffheit verfallen.“

 Diese Position wurde auf der Reichsschulkonferenz von 1920 von dem Verein akademisch gebildeter Lehrer vertreten. Das Verhandlungsergebnis war das System, das wir heute noch als „dreigliedrig“ bezeichnen und eine kurze gemeinsame Grundschulzeit von 4 Jahren für alle. Die neue Begründung für die alte Struktur war dem Zeitenwechsel angepasst. An die Stelle der Stände als Begründung für die Trennung trat nun die Theorie von den drei Begabungstypen, repräsentiert durch den praktisch Begabten, den theoretisch und praktisch Begabten und den rein theoretisch Begabten. Auch nach dem Zusammenbruch des Faschismus gelang es den Alliierten nicht, ein demokratisches Schulsystem in Deutschland zu etablieren, obwohl eine amerikanische Kommission von Bildungsexperten 1947 die Meinung vertrat:

  „ Dieses System hat bei einer kleinen Gruppe eine überlegene Haltung und bei der Mehrzahl der Deutschen ein Minderwertigkeitsgefühl entwickelt, das jene Unterwürfigkeit und jenen Mangel an Selbstbestimmung möglich machte, auf denen das autoritäre Führerprinzip gedieh.“

 Nicht unmaßgeblich für die restaurative Schulentwicklung in Westdeutschland war die Tatsache, dass der kurz nach 1945 einsetzende Kalte Krieg zwischen West und Ost als Kampf der Systeme das dreigliedrige Schulsystem in Westdeutschland stabilisierte als Gegenpol zu dem sozialistischen Einheitsschulsystem in Ostdeutschland.

 1959 begründete der Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen die Beibehaltung der Dreigliedrigkeit mit unterschiedlich anspruchsvollen Bildungsgängen als adäquate Antwort auf die arbeitsteilige Gesellschaft und die unterschiedliche Bildungsfähigkeit der Menschen:

„Die unterschiedlichen Bildungsanforderungen, die unsere arbeitsteilig entfaltete Gesellschaft an ihren Nachwuchs stellt und die Unterschiede in der Bildungsfähigkeit dieses Nachwuchses zwingen dazu, an drei Bildungszielen unseres Schulsystems festzuhalten, die nach verschieden langer Schulzeit erreicht werden: an einem verhältnismäßig früh an Arbeit und Beruf anschließenden, einem mittleren und einem höheren.“

 1970 empfahl der Deutsche Bildungsrat, die Nachfolgeinstitution des Deutschen Ausschusses, den Verzicht auf das gegliederte Schulsystem und ein nach Schulstufen und nicht nach getrennten Schularten aufgebautes System.

 Er reagierte damit auf die von Georg Picht ausgelöste Debatte über die deutsche „Bildungskatastrophe“. Dieser hatte einen Mangel an Abiturienten ausgemacht und befürchtete schwerwiegende Nachteile für die deutsche Wirtschaft. Der Bildungsrat reagierte auch auf den „Wandel des Begabungsbegriffs“, den Heinrich Roth in einem gleichlautenden Aufsatz 1961 so begründete:

 â€žBegabung, so müssen wir uns klarmachen, bedeutet immer auch begaben, Begabung stiften, Begabung aufbauen, eine Gabe verleihen, aufwecken, erwecken. Vielfach beginnen Begabungen sich erst dann zu entfalten, wenn sie von einem Lehrer, Meister, Regisseur usw. entdeckt und individuell und sachspezifisch gefördert werden.“

 Die Empfehlungen des Bildungsrates scheiterten an dem heftigen parteipolitischen Widerstand in den konservativ regierten Bundesländern. Die integrierten Gesamtschulen wurden zwar im Schulversuch zugelassen, aber nirgendwo als ersetzende Schulform realisiert. Ergänzend eingeführt wurden sie auch nur in sozialdemokratisch regierten Bundesländern. Dort aber gibt es immer wieder bis zum heutigen Tage heftige Auseinandersetzungen um ihre Existenz. Während unsere europäischen Nachbarländer einheitliche Gesamtschulsysteme entwickelten, verharrte die BRD in ihrer bildungspolitischen Starre und blieb zurück. Der Mauerfall und die Wiedervereinigung führten zu einer Anpassung der ostdeutschen Bundesländer an das westdeutsche System, allerdings ohne dass die Hauptschule als eigenständiger Bildungsgang übernommen wurde.

 Nach PISA ist die Schulstrukturdebatte wieder in Gang gekommen, und zwar gegen den erklärten Willen der KMK, die vor den alten ideologischen Grabenkämpfen warnte und die Gründe für das schlechte Abschneiden im internationalen Leistungsvergleich nicht auf die Strukturfrage zuspitzen wollte. Wir befinden uns trotz dieser Warnung mitten in einer Zeit der Strukturreformen. Allerdings wagt es keine Landesregierung, die „Schule für alle“ an die Stelle des gegliederten Schulsystems zu setzen, obwohl eine strukturelle Kursänderung pädagogisch, bildungs-, gesellschaftspolitisch und volkswirtschaftlich mehr als überfällig ist.

 Zu den Bundesländern, wo die „Dreigliedrigkeit“ politisch noch verteidigt wird, gehört auch NRW.

Der derzeitige Ministerpräsident Jürgen Rüttgers vertritt das schlichte Weltbild von den drei Begabungstypen mit den dazu passenden Schulformen: „Hauptschüler sind Kinder und Jugendliche, die mit ihren Händen was machen können.“

 Kürzlich stellte er in einer öffentlichen Diskussion fest, man könne zwar die Hauptschule abschaffen, aber nicht die Hauptschüler. Und wo sollten diese dann bleiben? Auch in unserer Zeit begründen Interessengruppen die Notwendigkeit der „Dreigliedrigkeit“.

 Die folgenden drei Zitate kennzeichnen die Position des Realschullehrerverbands NRW: „In der Spannung zwischen Erziehungs- und Unterrichtsschule (…) neigt sich der Auftrag der Hauptschule eindeutig der Erziehungsschule zu – und wer will kann auch hinzufügen – der Disziplinierungs- und Zivilisierungsschule.“

„Vielleicht wird die Realschule den Mut finden zu sagen, dass sie bei aller Durchlässigkeit und Anschlussfähigkeit für weiterführende Bildungsgänge im Kern die Schule für den Mittelstand, für die Handwerker, Kaufleute, Angestellten und Beamten, die das wirtschaftliche und administrative Rückgrat einer Region bilden“

„Die Absolventen des Gymnasiums müssen nach wie vor so gebildet werden, dass sie ihrer Verantwortung in den Schlüsselpositionen, in den dispositiven und deutungsrelevanten Berufen der Gesellschaft , die sie einmal in Wirtschaft, Politik, Verwaltung, akademischen und Medienberufen einnehmen, haben werden, auch entsprechen können.“

 Die drei Zitate stammen aus dem Gutachten von Prof. Brenner, das im Auftrag des Realschullehrerverbands NRW erstellt und 2007 veröffentlicht wurde. Der Verband hat sich diese Position zueigen gemacht und der Philologenverband steht inhaltlich fest an seiner Seite. Dass die Ständegesellschaft und das ständisch gegliederte Schulsystem hier fröhliche Urständ. feiern, ist keineswegs lustig oder komisch. Der Auftrag an die Hauptschule als Disziplinierungsschule ist besonders erschreckend. Die Hauptschule hat keinen Bildungsauftrag mehr, sie soll erziehen und disziplinieren. Den Hauptschülern wird das Recht auf Bildung abgesprochen. Dieses Denken ist menschenverachtend und ihm muss entschieden widersprochen und entgegengetreten werden.

 Fazit: Die Argumentation der heutigen Verfechter eines klassisch dreigliedrigen Schulsystems ist alt. Sie hat ihre Wurzeln in einem vordemokratischen Denken aus der Ständegesellschaft und in einem Weltbild von vorgestern. Diese konservativ-reaktionäre Argumentation hat sich als wetterfest erwiesen gegen alle Umbrüche und Krisen. Sie hat sich gesellschaftlich verfestigt und beansprucht zeitlose Gültigkeit. Deshalb ist eine historische Betrachtung hier besonders wichtig. Die Vertreter des Gymnasiums spielten und spielen dabei eine besondere Rolle. Sie sind so etwas wie die Gralshüter des gegliederten Schulsystems. Vor diesem Hintergrund ist die UN-Konvention eine absolute Herausforderung mit ihrer Forderung nach einem inklusiven Schulsystem.

Die Vererbung von Bildung

 

Die Vererbung von Bildung

 

 Wie auf Knopfdruck hört man Politiker aller Couleur heute sagen: Die Bildung der Kinder darf nicht vom Geldbeutel oder von der sozialen Stellung der Eltern abhängig sein. So darf es nicht sein. So ist es aber tatsächlich.

 Auf der Datenbasis des Mikrozensus von 2004 ist das Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik Nordrhein-Westfalen in einer Analyse der Frage nachgegangen: „Wie weit fällt der Apfel vom Stamm?“ Es kann belegen, dass Bildungsarmut ebenso vererbt wird Bildungsreichtum. Kinder von Eltern mit Hochschulabschluss erreichen zu 75,1 % das Abitur, wohingegen die Kinder von Eltern mit einer Anlernausbildung nur zu 5,8 % den höchsten Schulabschuss, das Abitur, erwerben. Dieses Ergebnis bestätigt die Erkenntnisse der sozialwissenschaftlichen Bildungsforschung, die dieses Phänomen schon in den 1960er Jahren hinreichend analysierte und die schulische Reproduktion sozialer Ungleichheit ursächlich an der Schulstruktur festmachte.

 Wenn man also politisch gewollt hätte, hätte man längst erkennen können, dass die auffällig enge soziale Kopplung von Herkunft und Bildung in Deutschland eine Folge der frühen Aufteilung der Kinder auf das gegliederte Schulsystem ist. Der Verzicht auf die Aufteilung wäre aber verbunden mit einem Verzicht auf Bildungsprivilegien. Deshalb steht auch die Strukturreform bei Teilen der bildungsnahen und politisch relevanten Wählerschichten nicht hoch im Kurs oder gilt sogar als unerwünscht.

 Fazit: Das gemeinsame Lernen ist eine ganz besondere Herausforderung für diejenigen, die ihre Bildungsprivilegien behalten und verteidigen wollen.

Die ZEIT spricht im Zusammenhang mit den Hamburger Protesten gegen die Verlängerung der Primarschule vielsagend von dem „Aufstand der Gucchi-Eltern“.

 

Die Aussonderung der Armen und Behinderten

 

Die Aussonderung der Armen und Behinderten

 

Im 19. Jh. wurden Kinder des industriellen Subproletariats, die in den großen Volksschulklassen aufgrund ihrer extremen Benachteiligung scheiterten, als „schwachsinnig“ bezeichnet. Die Hilfsschulbewegung setzte sich für ihre Abtrennung von den sog. „gesunden“ Kindern ein, weil sie „Schlacke“, „Spreu“, „Abfall“ und „Bodensatz“ der Gesellschaft darstellten. Die perfide Haltung der Hilfsschulbewegung bestand darin, dass sie sich gleichzeitig als Helfer für diese „unbrauchbaren“ Kinder ansah und sich besondere Kompetenzen im Umgang mit ihnen zusprach.

 Kielhorn, ein exponierter Vertreter der Hilfsschule, erklärte z. B. 1889: „Der schwachsinnige Mensch ist ein Rätsel demjenigen, der ihn nicht kennt, und solche Rätsel zu lösen soll man denen überlassen, die darin Ãœbung haben, nämlich Ärzten und Pädagogen, die an geistesschwachen Menschen Seelenkunde studiert haben.“

 Durch die Hilfsschulbewegung bekam die ständische Homogenitätsideologie faschistoide Züge. Propagierte sie doch nicht nur die Ungleichheit der Bildungschancen, sondern sorgte auch für den gesellschaftlichen Ausschluss der extrem verelendeten Kinder mittels der Kategorisierung als „unbrauchbar“ und „minderwertig“.

 Mühelos gelang es dem NS-Staat, die Hilfsschule in den Dienst seiner rassenhygienischen und bevölkerungspolitischen Ziele zu stellen, da zudem auch die Verbandsvertreter sich als willfährige Helfer anboten. Die Hilfsschule war den Nationalsozialisten das Sammelbecken für die erbkranken „Volksglieder“.

 Nach dem „Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses“ von 1933 wurden alle Hilfsschüler auf vermeintliche Erbkrankheiten untersucht und etwa die Hälfte von ihnen wurde zwangssterilisiert. Insgesamt waren 400 000 Menschen davon betroffen. Menschen mit einer geistigen Behinderung wurde das Recht auf Leben abgesprochen und viele von ihnen wurden Opfer von Euthanasie.

 Die Rolle der Hilfsschule wurde nach 1945 nicht politisch aufgearbeitet. In Westdeutschland wurde der enorme Ausbau des Sonderschulsystems und dessen Ausdifferenzierung in 10 Sonderschularten in der Nachkriegszeit politisch als Akt der Wiedergutmachung begründet. Auch Sonderschulen für Menschen mit einer geistigen Behinderung wurden eingerichtet, damit sollte die Vorstellung von ihrer Bildungsunfähigkeit revidiert werden. Dabei hätte man allerdings aus dem Faschismus die Lehre ziehen müssen, dass die Aussonderung in Sondereinrichtungen die davon Betroffenen besonders verletzlich macht und daher ihr Platz mitten in der Gesellschaft sein muss und nicht am Rande. Die Dominanz des Sonderschulsystems, das trotz der Integrationsbewegung seit den 1970er Jahren von der Bildungspolitik nicht in Frage gestellt wurde, erklärt die extrem niedrige Integrationsquote, die Deutschland wiederum zu einem bildungspolitischen Sonderfall in Europa macht.

Mit der Umbenennung der „Hilfsschule“ in „Sonderschule“ in den 1960er Jahren sollte dann in der BRD wohl eine Art Schlussstrich gezogen und die Last des historischen Erbes unsichtbar bzw. vergessen gemacht werden. Mit dem neuen Begriff „Förderschule“ hat man der Sonderschule ein positives Etikett verliehen, das aber die Betroffenen nicht vor Stigmatisierung schützen kann.

 Nach wie vor ist die Sonderschule für Lernbehinderte oder allgemeine Förderschule wie zu Zeiten der Hilfsschule eine Schule der Armen aus der untersten Unterschicht. Die Eltern dieser Kinder sind erwerbslos, langzeitarbeitslos, „working poor“ mit einem äußerst geringen Bildungsstatus. Migranten und Jungen sind dort überrepräsentiert. Die sozialstrukturelle Grenzziehung durch unser hierarchisch gegliedertes Schulsystem zeigt sich hier am eindeutigsten. Schüler der Sonderschule sind im Teufelskreis von Armut und Bildungsarmut gefangen, den – wie wissenschaftlich nachgewiesen – die Sonderschule verfestigt.

 Fazit: Auch vor diesem Hintergrund ist die UN-Konvention eine absolute Herausforderung, denn sie verpflichtet die Vertragsstaaten darauf, dass Kinder mit Behinderungen nicht mehr wegen ihrer Behinderungen aus dem allgemeinen Schulsystem ausgeschlossen werden dürfen.

 

Das Recht auf inklusive Bildung

 

Das Recht auf

inklusive Bildung

als Menschenrecht

 

Was wir unter Inklusion und inklusiver Bildung zu verstehen haben, hat schon lange vor der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen die UNESCO auf ihrer Weltkonferenz 1994 in Spanien mit der Erklärung von Salamanca und dem „Aktionsrahmen zur Pädagogik für besondere Bedürfnisse“ festgelegt.

 In der Erklärung von Salamanca heißt es: „Wir, die Delegierten zur Weltkonferenz über die Pädagogik für besondere Bedürfnisse, die 92 Regierungen und 25 internationale Organisationen bekräftigen unsere Verpflichtung zur Bildung für alle. Wir anerkennen die Notwendigkeit und Dringlichkeit, Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit besonderen Bedürfnissen innerhalb des Regelschulsystems zu unterrichten. Außerdem befürworten wir hiermit den Aktionsrahmen zur Pädagogik für besondere Bedürfnisse. Mögen Regierungen und Organisationen von der Gesinnung seiner Bestimmungen und Empfehlungen geleitet sein.“

 

Inklusion und inklusive Bildung

als Leitgedanken von Salamanca

lassen sich wie folgt zusammenfassen:

 

ʉۢ Alle Kinder haben das Recht auf Bildung.

• Alle Schulen nehmen alle Kinder auf.

• Alle Kinder lernen miteinander und voneinander.

• Alle Schulen passen sich den Kindern an.

• Sie entwickeln dafür eine kindzentrierte Pädagogik.

• Kinder mit Behinderungen und Lernschwierigkeiten gehören dazu.

• Kindgerechte Schulen gewährleisten erfolgreiches Lernen für alle.

• Sie sind ein Beitrag zu einer Gesellschaft,

• die die Unterschiede und die Würde aller Menschen respektiert.

 

Dass wir erst fünfzehn Jahre später durch die UN-Konvention mit diesem Konzept als Gesellschaft in Kontakt kommen, haben wir dem Desinteresse der deutschen Bildungspolitik zu verdanken. Ihre Vertreter waren zwar auch auf der Konferenz anwesend, ließen sich aber in der Zeit danach eben nicht von den Empfehlungen der Weltkonferenz leiten.

Die UN-Konvention macht die Leitgedanken von Salamanca rechtsverbindlich. Der Bund, die Länder und die Kommunen haben in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich die innerstaatliche Verpflichtung, inklusive Bildung in einem inklusiven Schulsystem zu gewährleisten. Der damit verbundene Paradigmen- und Mentalitätswechsel liegt in der Werteentscheidung, dass nur ein inklusives Bildungssystem das Recht auf Bildung „ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit“ gewährleisten kann.

 Die politischen Versuche der Umdeutung und Verfälschung dieser Menschenrechtskonvention in Deutschland zeugen von einer gewissen kriminellen bildungspolitischen Energie. Zunächst wurde „inclusion“ mit dem Begriff „Integration“ bewusst falsch ins Deutsche übertragen. Inzwischen verwendet man auch seitens der Kultusminister den verpönten Begriff, setzt ihn aber völlig gleich mit Integration. Dabei verbinden sich mit den beiden Begriffen zwei sich gegenseitig ausschließende Konzepte.

In dem Inklusionskonzept ist das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderungen ein Recht im Range eines Menschenrechts. Inklusion setzt ein System voraus, das von der Unterschiedlichkeit der Lernenden ausgeht, diese wertschätzt und sich daran anpasst. Die Frage, ob ein Kind integrationsfähig ist und zu dem vorgegebenen System passt, stellt sich nicht mehr. Man geht nicht davon aus, dass alle Kinder im gleichen Tempo das Gleiche lernen und die gleichen Ziele erreichen müssen. Lernen ist ein individueller Prozess, der individuell unterstützt wird. Die Sonderbeschulung ist eine besonders zu begründende Ausnahme, wobei die Beweislast nicht beim Kind, sondern beim System liegt. Auch das allgemeine Schulsystem muss seine inneren Barrieren aufgeben. Vollständige Inklusion verlangt ein gemeinsames Lernen aller Kinder bis zum Ende der Schulpflichtzeit.

Mit dem Integrationskonzept verbindet sich dagegen die bildungspolitische Vorstellung, dass die Vorgaben des Systems der Ausgangspunkt für pädagogisches Handeln sind. Das Kind muss sich daran anpassen. Zentrale Vorgabe des deutschen Schulsystems ist die Vorstellung, dass Kinder am besten in leistungshomogenen Gruppen lernen. Wird diese nicht eingehalten, werden Klassenwiederholungen und Abschulungen von einer Schulform zu einer weniger anspruchsvollen als Instrumente zur Herstellung der fiktiven Leistungshomogenität eingesetzt. Die Überweisung zur Sonderschule ist normal, wenn zielgleiches Lernen nach den Curricula der allgemeinen Schulen nicht möglich ist. Das gemeinsame Lernen ist die Ausnahme und unterliegt dem Finanzvorbehalt.

In der KMK scheint man sich darauf zu verständigen, dass mittelfristig Eltern ein Wahlrecht über den Förderort eingeräumt werden soll, obwohl es nach der UN-Konvention um die Rechte des Kindes auf gemeinsame Bildung geht. Die Vorteile für die Bewahrer des alten Systems liegen bei dieser Lösung auf der Hand. Um den Eltern ein Wahlrecht zu garantieren, muss das Förderschulsystem aufrecht erhalten werden.

 Das Wahlrecht für Eltern lässt sich steuern: z. B. über die ungleichwertige Ausstattung der Förderorte. Genau diese Situation haben wir derzeit in allen Bundesländern. Deshalb gibt es Eltern, die zwar die gemeinsame Unterrichtung in der allgemeinen Schule wollen, aber dann doch die Förderschule wählen müssen, weil die Bedingungen einer umfassenden Versorgung für Kinder mit schwerwiegenderen Beeinträchtigungen dort besser sind. Es muss sehr zu denken geben, dass die Auseinandersetzung mit der mangelhaften Qualität der bestehenden Integrationsangebote bildungspolitisch bewusst vermieden wird. Die nach PISA von Standardisierung und Qualitätssicherung besessene KMK, die unglaublich fix für alle Länder schulformbezogene Bildungsstandards verbindlich einführen konnte, hat sich um Qualitätsstandards für das gemeinsame Lernen nie gekümmert.

Innerhalb der KMK scheint sich auch die Meinung durchzusetzen, dass bei der vollständigen Freigabe des Elternwillens ein verbindliches Beratungsangebot durch die zuständige Schulbehörde sicher gestellt werden muss. Dass damit auch Einschränkungen des Elternwahlrechts einhergehen, zeichnet sich ab. Als Hebel für staatliche Interventionsrechte bietet sich das „Kindeswohl“ an. Es wurde immer schon als Druckmittel von Schulbehörden eingesetzt, um Eltern das gemeinsame Lernen für ihr Kind auszureden.

Alle Bundesländer stehen nach der Ratifizierung der Konvention vor schulrechtlichen Änderungen. Ob in den Schulgesetzen das Recht des Kindes auf gemeinsames Lernen mit nichtbehinderten Kindern oder das Recht der Eltern auf Wahl des Förderortes steht, ist alles andere als egal. Davon hängt ab, ob es wirklich erste transformatorische Schritte zu einem inklusiven Schulsystem geben kann, das am Ende vollkommen barrierefrei für alle Kinder mit und ohne Behinderungen gestaltet ist. Oder ob nur kosmetische Anpassungsprozesse an die UN-Konvention vorgenommen werden.

 

 
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